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Wenn XR und Film zusammenfinden

Pascaline Sordet
02. November 2021

Anaïs Emery, neue Direktorin des GIFF. © Vincent Calmel

Der Geneva Digital Market öffnet seine Tore und setzt stark auf digitale Kunst. Eine gute Gelegenheit, um über mögliche Brücken zwischen dieser Welt und dem traditionellen audiovisuellen Schaffen nachzudenken.

Worum geht es da schon wieder? XR oder Extended Reality umfasst die Bereiche der virtuellen, erweiterten und gemischten Realität. Solche Arbeiten werden manchmal der Audiovision, manchmal der digitalen Kunst oder aber dem vagen Begriff «neue Technologien» zugeordnet. «Über die Definitionen sind wir uns selbst noch nicht im Klaren», bekennt Anaïs Emery, die nach 20 Jahren an der Spitze des von ihr mitgegründeten Neuchâtel International Fantastic Film Festival ihre erste Ausgabe des Geneva International Film Festival eröffnet. Dieses Bekenntnis ist keine Schwäche, sondern verweist auf ein Hauptmerkmal der Veranstaltung: «Das GIFF bietet Gelegenheit zur Reflexion über das audiovisuelle Schaffen und seine Grenzen, in Achtung seiner reichhaltigen Geschichte: Es hat sich zuerst dem Fernsehen, dann den TV- und Web-Serien geöffnet, und seit einigen Jahren auch der immersiven und interaktiven Kunst.» Neue Formen, die sowohl eigene Formate geschaffen, als auch den Film beeinflusst haben, «der schon immer eine technologiebasierte Kunst war», so die Festivalleiterin.

Während Serien und Filme zunehmend via Streaming konsumiert werden und das Verhalten des Publikums sich wandelt, eröffnen immersive und interaktive Werke der audiovisuellen Branche Möglichkeiten, die über ihr traditionelles System hinausgehen. Die Pandemie hat verdeutlicht, dass Veränderung ein Dauerzustand ist: «Es wird immer Neues geben». Nutzen wir es also!

 

Zwei Welten verbinden

Digitale Werke nehmen im Programm des Genfer Festivals einen wichtigen Platz ein, sowohl im eigenen internationalen Wettbewerb als auch im Markt, «der für unsere Überlegungen von zentraler Bedeutung ist». Nach seiner Einführung 2013 war der Markt zunächst fast ausschliesslich der Strukturierung der XR-Welt gewidmet. Das neue Team entwickelt ihn nun weiter und setzt vermehrt auf die Verbindung zwischen XR und traditionellem audiovisuellen Schaffen – zwei Welten, die noch zu oft weit voneinander entfernt oder gar komplett getrennt sind: «Wir möchten den etablierten Produktionsfirmen zeigen, dass sich hier neue kommerzielle und künstlerische Möglichkeiten auftun. In aller Bescheidenheit, denn niemand kann genau vorhersagen, in welche Richtung die digitale Kunst sich entwickeln wird.»

Auch die Stadt Genf liess dies so vage wie pädagogisch offen, als sie 2020 ihr «Département de la culture et du sport» (Departement für Kultur und Sport) in «Département de la culture et de la transition numérique» (Departement für Kultur und digitalen Wandel) umbenannten – eine Wortwahl, welche die XR-Spezialistin und ehemalige RTS-Mitarbeiterin Sophie Sallin begrüsst. Sie wurde als Kulturberaterin für interdisziplinäre – «ich bevorzuge die Bezeichnung hybride» – und digitale Kunst engagiert. In diesem hart von der Pandemie getroffenen Departement muss nun alles neu aufgebaut werden: «Digitale Kunst ist für viele ein sehr vages Konzept, sei es in der Politik, im Film- oder Kulturbereich. Sie wird häufig mit Videogames gleichgesetzt und ist mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen und vielen, oft negativen Vorurteilen behaftet. Als erstes müssen wir deshalb das Feld eingrenzen: Was betrachten wir als digitale Kunst? Unsere zweite Aufgabe ist dann die Aufklärungsarbeit.»

 

In der XR-Branche finden sich Berufe, die nicht zum klassischen audiovisuellen Sektor gehören, wie InformatikerInnen, Media-DesignerInnen und EntwicklerInnen, aber auch klassische Filmberufe wir DrehbuchautorInnen, ProduzentInnen oder AnimateurInnen. Das Team der DNA Studios in Freiburg, die «Marionnettes, Paul Klee» am GIFF zeigen, ist typisch für diesen Kompetenzmix: vier Gründer, die sich während der Ausbildung kennenlernten – zwei Informatiker, ein 2D-Animator und ein Spezialist für 3D-Modellierung – zu denen später ein Drehbuchautor stiess. «Paul Klee» ist nach Vallotton, Böcklin und Hodler die vierte Folge der Serie «Hors-Cadre», die buchstäblich in die Bilder eintauchen lässt. Mitgründer Martin Charrière unterstreicht den stetigen Wandel in der digitalen Kunst: «Wir nutzen diese Projekte, um uns fortzubilden und neue Technologien zu entdecken. Deshalb erforschen wir in jeder Folge einen neuen Aspekt.»

«Brücken zu schlagen zwischen den Berufen ist eine der Aufgaben des Geneva Digital Market und des GIFF», erklärt Anaïs Emery. Der Markt wird dieses Jahr von Focal unterstützt, was beweist, dass auch in Bezug auf Weiterbildung Handlungsbedarf besteht. XR ist ein bisher noch wenig bekannter Bereich, der jedoch bald zu den Grundkenntnissen im audiovisuellen Sektor gehören könnte. Fehlt es der klassischen Filmwelt also an Vorstellungskraft? «Ich weiss nicht, ob wir zu wenig Fantasie haben, doch die neuen AkteurInnen sind da, damit die klassischen ProduzentInnen nicht selbst Spezialisten in diesem Bereich werden müssen. Das verändert die Arbeitsabläufe; es ist, wie wenn man die Komposition einer Filmmusik mitverfolgt, ohne selbst Musik schreiben zu können.» Als Beispiel nennt sie die beeindruckende Arbeit von Consuelo Frauenfelder von Garidi Films, die sowohl Spielfilme als auch VR-Projekte produziert, darunter die virtuelle Matterhorn-Besteigung «Red Bull The Edge», und die mit einem neuen Projekt am Markt teilnimmt: «Sie ist eine klassische, aber dynamische Akteurin, die VR als Chance nutzt, ohne deshalb ihre Arbeitsweise grundlegend zu ändern.»

 

Ein Finanzierungsproblem?

Die nötigen Kenntnisse zu erwerben ist die erste Etappe. Die finanziellen Mittel zur Realisierung von hybriden Werken zu finden ist die nächste, nicht zu unterschätzende Herausforderung. Einige Kreativ­unternehmen sind aus der Schweiz weggezogen, um wachsen zu können. CtrlMovie, das den Multiple-Choice-Film «Lateshift» herausbrachte, hat heute Niederlassungen in Los Angeles, Ludwigsburg und der Region Luzern. Apelab, mit neuem Namen Zoe Immersive, das «La Légende de Kami» in der Sektion Highlight des GIFF als Weltpremiere zeigt, arbeitet in Los Angeles und Genf. Aus Artanim mit seiner Motion-Capture-Technologie an der Grenze zwischen Kino und Videospiel entstand Dreamscape Immersive, ebenfalls in Los Angeles. «Dass diese Unternehmen international expandieren, mag manchen verärgern, doch die Filmindustrie ist auch international: FilmproduzentInnen gehen nach Cannes oder Berlin und arbeiten mit europäischen SchauspielerInnen. Was uns bei anderen schockiert, stört uns bei uns selbst nicht», so Anaïs Emery.

Sie räumt jedoch ein, dass es im Bereich der Förderung in der Schweiz ein politisches Problem gibt: «Es wird unterteilt in interaktive Kunst, Videogames, immersive Kunst sowie XR, anderseits die klassische Film- und audiovisuelle Produktion. Das erschwert die interdiszip­linäre Arbeit.» Unternehmen, die sich diversifizieren wollen, müssen sich mit verschiedenen Ansprechpartnern und fragmentierten Finanzquellen auseinandersetzen, was viel Einsatz erfordert. Es gibt Initiativen, insbesondere von der Zürcher Filmstiftung, die Serien und neue Medien in einige ihrer Förderkategorien integriert hat, und von Cinéforom, die ihren Wettbewerb zur Innovationsförderung in Zusammenarbeit mit der SRG weiterführt. Das Bundesamt für Kultur und das Migros Kulturprozent fördern Multimedia-Projekte nur im Entwicklungsstadium. Beim Fernsehen ist der Pacte de l’audiovisuel Partner für Hybridprojekte, doch in der Westschweiz scheinen diese neuen Formate keine Priorität zu haben: «RTS hat Versuche im Bereich der virtuellen Realität unternommen und verfolgt weiterhin die Marktentwicklung. Zurzeit konzentrieren sich die Innovationsbemühungen auf andere Bereiche, und es ist kein konkretes Augmented-Reality-Projekt in Arbeit», liess das Unternehmen auf unsere Anfrage hin durch seine Pressestelle verlauten.

 

Mehr Kohärenz unter den Fonds

Seit der Schaffung des Cinéforom vor zehn Jahren kümmert sich die Stadt Genf nicht mehr direkt um die Filmförderung. Sie unterstützte jedoch stets digitale Kunstprojekte, nicht über ein spezielles Förderprogramm, sondern mit bestehenden Fördermitteln für Musik, Theater, Tanz oder bildende Künste. Nun macht sie sich Gedanken über mögliche Förderprogramme, um «ein XR-Ökosystem zu werden»: «Wie müssen hier die gleiche Art von Arbeit leisten wie für die 4 % der Lex Netflix, um den Leuten klarzumachen, dass digitale Kunst allgegenwärtig und die Ausdrucksform der Zukunft ist. Die politischen und institutionellen Förderorgane müssen sich unbedingt mit den neuen Praktiken auseinandersetzen, sonst laufen wir Gefahr, Formate zu fördern, die niemanden mehr interessieren.»

Konkret «müssen wir für alles, was kein traditioneller Film ist, von Jahr zu Jahr fallweise entscheiden, denn alles ändert sich ständig. Die Wettbewerbe mit ihren jährlichen Deadlines machen es schwierig, Teams zusammenzustellen. Zudem braucht es Experten, um die Dossiers zu lesen, das ist nicht einfach», so Martin Charrière von DNA Studios. Er fügt an, dass Auftragsarbeiten zur Finanzierung der Kulturprojekte beitragen, und schätzt die Kosten für ein kurzes interaktives Werk auf rund 150ʼ000 bis 200ʼ000 Franken. «Wir brauchen Kohärenz auf nationaler Ebene», schliesst die Leiterin des GIFF, nicht für den technologischen Fortschritt selbst, sondern um die Schaffung neuer Fiktionen, Erzählweisen und Formen zu ermöglichen, «so wie es das Fernsehen mit den Serien getan hat».

 

Welche Technologie für die Zukunft?

In diesem überaus fragmentierten Markt kann man trotz allem auch Geld verdienen, zum Beispiel mit Museen, Schulungs- oder Präventionsprojekten und VR-Spielen für Oculus. «Wir arbeiten oft für private Kunden», so Martin Charrière. «Zurzeit kreieren wir eine Reihe von E-Learning-Modulen in 15 Sprachen zum Thema Kinderschutz im Sport, die sich an Trainer und Clubs richtet. Es handelt sich um eine Website auf einer E-Learning-Plattform, mit Animationen und Erzählungen, das Ganze ist sehr gamifiziert.» VR- oder 360-Grad-Projekte sind seltener und stehen meist in Zusammenhang mit Ausstellungsprojekten, wie die App für die Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, mit der Schlösser besucht werden können.

«Ich bin überzeugt, dass die immersive Kunst eine Zukunft hat und die schweren Headsets noch verbessert werden», prophezeit Anaïs Emery, räumt aber ein, dass derzeit keine Technologie klar die Nase vorne hat. Der Verkauf von VR-Headsets boomte während der Pandemie, doch jene «Extended Reality», die durch den Erfolg von Pokémon Go schlagartig ins öffentliche Bewusstsein rückte, hat sich seither nicht merklich weiterverbreitet. «Ich denke, dass der interaktive Film auch in Zukunft von sich reden machen wird, da er insbesondere aus erzählerischer Sicht sehr interessant ist.»

Es sei wichtig, eine Experimentierkultur zu entwickeln, die ohne Anspruch auf Perfektion arbeiten lässt, schlussfolgert Emery. Eine Kultur der Prototypen: «Es braucht ein gewisses Wohlwollen, damit die audiovisuelle Landschaft der Schweiz sich gleichzeitig in verschiedene Richtungen entwickeln kann. Vielleicht sind kommende Generationen agiler darin, Projekte und Berufslaufbahnen zu steuern.» 

 

▶  Originaltext: Französisch

 

Geneva Digital Market

Online und vor Ort

Vom 8. bis 12. November im alten Kino Plaza

Eine Akkreditierung ist notwendig:
[email protected]

 

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