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Braucht es einen Sonderstatus für Kulturschaffende?

Pascaline Sordet
13. Mai 2020

Laura Kaehr bei den Dreharbeiten ihres Films «Becoming Giulia». © Felix von Muralt

Die Wirtschaftskrise aufgrund der Covid-19-Pandemie und das komplexe Problem der Entschädigungen zeigen auf, wie vielfältig und prekär die Arbeitssituation der Kulturschaffenden ist und wie dringend ihr Status überdacht werden muss.

Viele Selbständige fürchteten während mehrerer Wochen, gar keine Entschädigung zu erhalten, obwohl sie nicht mehr arbeiten konnten. Erst gut einen Monat nach Beginn des Lockdowns weitete der Bundesrat am 16. April den Anspruch auf Corona-Erwerbsersatz auf Selbständige aus, die indirekt von den behördlichen Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie betroffen sind. Berufstätige im Film konnten aufatmen, selbst wenn die Vergabe dieser Entschädigungen kantonal geregelt ist und es zu Ungleichbehandlungen kommt. Die Massnahme gilt rückwirkend und für maximal zwei Monate. Für Nicole Barras, Geschäftsleiterin des ssfv, «reicht dies nicht aus», denn es ist unsicher, wann die Kulturinstitutionen wieder öffnen und die Dreharbeiten wieder aufgenommen werden können. «Wir haben bereits eine Motion eingereicht, um die Dauer der Massnahmen zu verlängern», sagt sie.

Die aktuelle Krise hat aufgezeigt, wie verschiedenartig der Status der im Audiovisionsbereich Tätigen ist. Einige wenige sind festangestellt, andere sind befristet engagiert und wechseln mit jedem Projekt den Arbeitgeber. Zwischen zwei Anstellungen haben sie, wie alle Angestellten, Anspruch auf Arbeitslosen­entschädigung. Der Nachteil daran ist, dass gewisse RAV sie dazu drängen, berufsfremde Arbeit anzunehmen. Eine zweite Kategorie bilden die   Selbständigen, entweder aus freiem Willen oder aus Notwendigkeit. Die Selbständigkeit bietet mehr Flexibilität und höhere Steuerabzüge. Der Nachteil: Man bezahlt die gesamten Sozialabgaben selbst und hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Viele arbeiten gleichzeitig als Selbständige und Angestellte, was ihre soziale Absicherung aufsplittert und die Situation noch komplexer macht. Hinzu kommen Miteigentümer(-innen) einer GmbH, die bei ihrer eigenen Firma angestellt sind und sich in einer Art Zwischenposition befinden. Die grosse Unklarheit, die unter den Kulturschaffenden, aber auch bei den Arbeitslosenkassen herrscht, erschwert die Auseinandersetzung mit dem Thema und macht deutlich, wie wichtig eine offene Diskussion über die Arbeitsformen im Kulturbereich ist.

 

Echte Selbständige und Scheinselbständige

Wie Daniel Gibel, Vorstandsmitglied des ssfv und Editor, in einer von Fonction: Cinéma organisierten Online-Gesprächsrunde erklärte, wird der rechtliche Status der Selbständigkeit oft falsch verstanden. Zur Erinnerung: Gemäss seco gilt eine Person als selbständig­erwerbend, wenn sie – unter anderem – erhebliche Investitionen tätigt, die Art und Weise der Arbeitserbringung selbst bestimmt, keinen Weisungen unterworfen ist, gleichgestellt ist gegenüber dem Auftraggeber und ihre Arbeitszeiten selbständig festlegt. «Techniker können nicht als Selbständige im Sinne des Gesetzes arbeiten», bestätigt Nicole Barras. «Alle Personen, die zu festgelegten Zeiten an einem Drehort arbeiten, sind Angestellte; sie haben einen Job, fixe Arbeitszeiten, eine Hierarchie.» Es handelt sich um Scheinselbständige, die durch einen Arbeitsvertrag besser geschützt wären im Falle von Kündigung, Terminverschiebungen, Überstunden oder Nachtarbeit. Im Vergleich dazu sind Spengler oder Kosmetikerinnen echte Selbständige, die ihre Arbeitszeiten, ihre Kunden und ihre Arbeitsweise selbst bestimmen.

Daniel Gibel unterstreicht, dass viele Techniker nicht aus freien Stücken als Selbständige arbeiten, sondern von den Produktionsfirmen dazu gedrängt werden, damit diese keine Sozial­abgaben bezahlen müssen. Nicole Barras weiter: «Bei den vom BAK finanzierten Kinoproduktionen funktioniert es ziemlich gut. Problematisch ist der freie Markt der Auftrags- und Werbefilme sowie des Fernsehens. RTS schliesst seit mehreren Jahren keine Arbeitsverträge mit Technikern mehr ab, sie müssen selbständig sein.» Die AHV kam daraufhin zum Schluss, dass einige von ihnen Scheinselbständige sind.

Die Filmemacherin und Choreographin Fabienne Abramovich war 1996 an der Gründung von Action Intermittence beteiligt. Der Verband verbindet Kulturschaffende aus der ganzen Schweiz in einem Netz von rund 800 Fachleuten und Kultureinrichtungen. «Das Problem, das Nicole Barras anspricht, ist sehr wichtig, denn unser zunehmend liberales System zwingt die Leute dazu, als Selbständige zu arbeiten, als ob dies die einzige Möglichkeit wäre. Viele entdecken jedoch erst zu spät, was es bedeutet, selbständig zu sein, vor allem in der aktuellen Krise.»

Die Selbständigkeit kann durchaus auch eine bewusste Wahl sein. Störend dabei ist für Marc Zumbach die Tatsache, dass Selbständige sich nicht der Arbeitslosenversicherung anschliessen können, «obwohl dies die Bundesverfassung von 1974 so vorsieht.» (Artikel 114 präzisiert, dass «Selbständigerwerbende sich freiwillig versichern können», aber faktisch existiert diese Möglichkeit nicht). Um ein klares Bild der aktuellen Situation zu zeichnen, scharte der selbständige Kameramann seit Beginn des Lockdowns eine Gruppe von rund 100 Technikern um sich, die sich per Mail und Zoom austauschen. Unter denen, die diesbezügliche Angaben machten, «erhalten manche zwischen 1ʼ200 und 1ʼ800 Franken an Unterstützungsgeldern. Die Beträge werden auf der Grundlage des Einkommens 2019 berechnet. In unserer Branche variiert das Einkommen jedoch stark von Jahr zu Jahr, und der Bezug auf ein einziges Jahr kann sich negativ auswirken. Eine Berechnung aufgrund der letzten drei Jahre wäre angebrachter.»

 

Der Status des «Intermittent»

Die meisten Mitglieder des ssfv arbeiten in befristeten Arbeitsverhältnissen und gelten folglich als Angestellte. Sie sind sogenannte «Intermittents», ein Begriff, den es auf Deutsch nicht gibt und der in der Arbeitslosenversicherungsverordnung (AVIV, Art. 8 und 12a) mit «häufig wechselnde oder befristete Anstellungen» übersetzt wird. Dies beinhaltet alle Saisonarbeiter und seit Juli 2003 auch Musiker, Schauspieler, Artisten, künstlerische Mitarbeiter bei Radio, Fernsehen oder Film, Filmtechniker und Journalisten.

Dank dieses Status zählen die ersten 60 Tage jedes Arbeitsverhältnisses doppelt zur Ermittlung der notwendigen Beitragszeit von zwölf Monaten, um Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung zu haben. So sollen die Nachteile befristeter Arbeitsverträge ausgeglichen werden. «Im Vergleich zum Status der ‹Intermittents› in Frankreich sind die Schweizer Kulturschaffenden nicht schlechter gestellt, im Gegenteil, vor allem in Bezug auf die Beitragszeit, die den Anspruch begründet. In Frankreich muss jedes Jahr eine bestimmte Anzahl Stempel und Stunden erreicht werden. In der Schweiz gilt eine Rahmenfrist von zwei Jahren, was den Versicherten mehr Flexibilität gewährt. Wenn ein Jahr schlecht läuft, kann man im folgenden Jahr aufholen, ohne seinen Anspruch zu verlieren», erklärt Fabienne Abramovich von Action Intermittence.

Obwohl es also in der Schweiz einen Status für Personen mit häufig wechselnden oder befristeten Anstellungen gibt, ist er wenig bekannt. «Dieser Status existiert zwar im Gesetz, doch es ist wie mit der Tausendernote: Niemand hat je eine gesehen», meint Marc Zumbach ironisch. «Natürlich begrüsse ich die Arbeit von Action Intermittence, doch in der Realität nützt uns diese Anerkennung nicht viel.» Ein grosses Problem der Kulturschaffenden, die Arbeitslosengeld beziehen, ist die Verpflichtung, alle Jobangebote anzunehmen, auch ausserhalb ihres Fachs. «Das bedeutet, dass man keine Wahl hat und danach nicht mehr frei ist, wenn man ein Angebot aus der Branche erhält». Dies führt unweigerlich zu Kompetenzverlusten.

 

Ein Sonderstatus für die Kulturbranche?

Die verschiedenen Arbeitsformen zu harmonisieren, deutlich zu machen, dass häufige Arbeitgeberwechsel kein Problem darstellen und Arbeitslosigkeit nicht als Versagen, sondern als normalen Bestandteil des Berufslebens im Kulturbereich betrachtet werden sollte – davon träumt Marc Zumbach: «Jeder Status hat seine Schwachstellen, und da die meisten nicht nur einen Status haben, sind sie gleich doppelt bestraft. Es ist zum Verzweifeln. Wir Kulturschaffenden haben uns diese Vielfalt nicht ausgesucht, vielmehr träumt jeder von uns davon, einen einheitlichen Status zu haben, wie auch immer er genau aussieht.»

Ein einheitlicher sozialer Status, dafür kämpft auch Fabienne Abramovich: «Das Gesetz ist gut aufgestellt, doch es ist unvollständig. Wir sollten über einen generellen Status für den Kunstbereich nachdenken, insbesondere für eine faire Altersrente.» Selbst wenn die aktuelle Krise dramatisch ist, so verschärft sie nur bestehende Probleme, die auch nach der Krise andauern werden: die Schwierigkeit, die nötigen Beitragsjahre zusammenzukriegen, um eine angemessene Rente zu erhalten sowie die massive Inanspruchnahme von Zusatzleistungen. Fabienne Abramovich unterstreicht: «Egal ob wir in häufig wechselnden Anstellungen, als Selbständige oder auf Abruf arbeiten, wir kriegen nie die erforderlichen 44 Beitragsjahre zusammen, um eine anständige Rente zu erhalten. Kulturschaffende sind also im Alter zwangsläufig von Armut betroffen.»

 

Verschiedene Lösungsansätze

Fabienne Abramovich spricht sich für die Schaffung eines nationalen Hilfsfonds aus, damit Kulturschaffende beim Eintritt in das Rentenalter einen umfassenden sozialen Status geltend machen können. Sie erinnert an einen Vorstoss aus den Achtzigerjahren, der eine allgemeine Lohnabgabe vorschlug, um die Kultur entsprechend ihrem wichtigen öffentlichen Auftrag zu finanzieren. Eine Art Kultursteuer auf alle Einkommen, «denn Kultur gehört jedem und es reicht nicht, sich auf öffentliche Subventionen oder private Geldgeber abzustützen.»

Die Gruppe rund um Marc Zumbach organisiert sich ihrerseits, um den Kampf fortzusetzen und alle Partner an einen Tisch zu bringen. «Wir sind uns bewusst, dass dies momentan nicht erste Priorität hat, doch wir wollen die Krise nutzen, um auf das Problem aufmerksam zu machen und es anzugehen.» Marc Zumbach erklärt, dass dieser Kampf auf nationaler Ebene ausgetragen werden muss, um konkrete Ergebnisse für alle Kulturschaffenden zu bringen. Die ersten Reaktionen stimmen den Kameramann recht optimistisch: «Wir finden Gehör, die Leute interessieren sich für die Problematik. Jedem wird bewusst, dass es ohne uns keine Filme mehr geben würde.» RTS ist zum Dialog bereit und hat bereits die Teilnahme an Gesprächen rund um diesen angestrebten einheitlichen Status zugesichert. Der für Kultur zuständige Genfer Stadtrat Thierry Apothéloz (SP) gab unterdessen in der Tribune de Genève die Schaffung einer Arbeitsgruppe zu diesem Thema bekannt. «Sobald die Krise überwunden ist, müssen wir uns mit der Einführung eines Status für ‹Intermittents› befassen», fügt er an. Ein guter Anfang.

 

▶  Originaltext: Französisch

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