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Die Spätzünderin

Laure Gabus
12. Mai 2020

Nicole Borgeat, Regisseurin und Drehbuchautorin. © Anne Bichsel / RTS

Ich lache immer noch, als ich den Hörer auflege. Ich habe Nicole Borgeat angerufen, um ein Skype-Gespräch – Covid-19 lässt grüssen – zu vereinbaren über ihr Engagement für die Westschweiz im Vorstand des Verbands Filmregie und Drehbuch Schweiz (ARF/FDS). Sie gibt sich zunächst zurückhaltend: «Wenn du aus bescheidenen Verhältnissen stammst und zudem noch eine Frau bist, lernst du, dich nicht hervorzutun.» Wir vereinbaren einen Termin für den nächsten Vormittag, denn nachmittags nimmt sie an einem Online-Fitnesskurs ihrer brasilianischen Lehrerin teil: «Mach doch auch mit, das befreit den Kopf!»

Die 1966 geborene Genferin ist Regisseurin, Drehbuch- und Theaterautorin. Seit den Neunzigerjahren wechselt sie hin und her zwischen Film, Theater und Fernsehen. Am erfolgreichsten ist sie als Drehbuchautorin und als Regisseurin von Komödien wie «Boomerang», einem Film über das Asylwesen, dessen Drehbuch sie gemeinsam mit Jacqueline Surchat geschrieben hat. Seit Beginn der Coronakrise engagiert sie sich in der Antenne romande des ARF/FDS, um die langfristigen Auswirkungen dieser Krise abzuschätzen. Getrieben von dem gleichen Bedürfnis, ihre Berufsgruppe zu vertreten und ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, beteiligte sie sich 1997 an der Gründung von Action Intermittence.

Trotz ihres vielseitigen Werdegangs ist Nicole Borgeats Präsenz im Internet bescheiden. Sie weiss dies und verspricht, mir eine Biographie und einen Link zu «Boomerang» zu schicken. Der Film ist lustig und hat zugleich eine starke Aussage. Ihre Fähigkeit, Wirklichkeit zu dokumentieren und die Komik darin herauszuarbeiten, frappiert. «Nicole behält immer im Auge, dass wir etwas über diese Welt erzählen möchten, das ist ihre grosse Stärke», erklärt Drehbuchautorin Jacqueline Surchat, die selbst auch gerne soziale Geschichten erzählt.

 

«Umgänglich und sehr unzufrieden»

Für unser Skype-Gespräch sitzt Nicole Borgeat in ihrer morgenhellen Küche. Sie erzählt mir von ihrer Kindheit im noblen Genfer Stadtteil Champel, als Tochter eines Postangestellten und einer Hausfrau. «Ich habe während meiner Jugend sehr unter meiner bescheidenen Herkunft gelitten. Meine Freunde verbrachten Weihnachten in New York, ich am Col des Mosses. Sie sagten, mein Zuhause sei hässlich, doch für mich war es einfach mein Zuhause.»

Ich versuche, sie mir als Jugendliche vorzustellen. «Ich war schon damals wie heute noch: umgänglich, schnell zufrieden, gesellig und zugleich sehr unzufrieden». Da es bei ihr zu Hause keinen Fernseher gibt, befriedigt sie ihr «immenses Bedürfnis nach Geschichten und Emotionen» mit Literatur, Kino und Theater; zwischen 14 und 18 Jahren spielt sie selbst Theater. «Ich ging nicht gerne auf die Bühne, ich hatte zu viel Lampenfieber. Zudem muss man als Schauspielerin Anweisungen ausführen, das fiel mir schwer. Was mir am Theater gefiel war der schöpferische Akt, das Vermitteln.» Nach der Matura entscheidet sie sich für ein Filmstudium und bewirbt sich am INSAS in Brüssel. «Ich habe nie verstanden, wieso sie mich aufgenommen haben. Irgend etwas haben sie wohl in mir gesehen, dafür bin ich ihnen dankbar.»

Nach ihrem Studienabschluss schreibt und dreht Nicole Borgeat ihren ersten erfolgreichen Kurzfilm «Éperdument oui». «Ich wusste nicht, wie ich darauf aufbauen und den Sprung vom Kurz- zum Langfilm schaffen sollte.» Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitet sie unter anderem als Regieassistentin, als Assistentin für den Produzenten Jean-Marc Henchoz und als Drehbuchautorin für den Regisseur Yan Duyvendak. «Ich machte alles, was mir in die Hände fiel. Im Dienst anderer zu stehen, fällt mir leicht. Ich mag Leute, die ein grosses Ego haben. Ich habe lange gebraucht, um mich selbst zu akzeptieren und eine Führungsrolle einzunehmen. Ich bin eine Spätzünderin.»

 

«Eine wahre Kämpfernatur»

Anfang 2000 beginnt sie ihre Zusammenarbeit mit Jacqueline Surchat, die sie im Script Consultant Pool von FOCAL kennengelernt hat. Eine erfolgreiche Partnerschaft: «Es ist toll, jemanden zu haben, auf den du dich verlassen kannst und der dich ohne viele Worte versteht. Alle wollen mit Jacqueline arbeiten, doch sie hat mich ausgewählt.» Jacqueline Surchat antwortet darauf: «Nicole gibt nie auf, sie ist eine wahre Kämpfernatur und hat viel Überzeugungskraft. Ich habe grosses Vertrauen in sie, in ihre Intuition, ihre Zweifel, ihren Perfektionismus. Ich weiss, dass sie als Regisseurin fähig ist, mein Drehbuch überlegt umzusetzen und daraus einen Film zu machen, auf den ich stolz sein kann.»

Nicole Borgeat hat das Drehbuchschreiben nie aufgegeben. Zurzeit schreibt sie eine Serie über das Jugendgericht und arbeitet an einem Kinofilm – eine Premiere für sie. Ihre Drehbücher wurden zwar immer gefördert, doch bisher hat sie nur Fernsehfilme gedreht. Sie beginnt, sich zu rechtfertigen, hält dann aber inne: «Vor der #MeToo-Bewegung dachte ich immer, das Problem liege bei mir. Ich wäre nie darauf gekommen, dass es strukturelle Gründe haben könnte. Das zu verstehen, hat mich erleichtert und mir Kraft gegeben.»

 

▶  Originaltext: Französisch

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