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«Meine Filme entstehen aus Beziehungen heraus»

Pascaline Sordet
06. Januar 2020

© Anne Morgenstern

Heidi Specogna hat ihre ganze berufliche Laufbahn dem Dokumentarfilm gewidmet, hauptsächlich in Lateinamerika und Afrika. Die Autorin, Ehrengast der Solothurner Filmtage, beschreibt anhand von zwölf persönlichen Stichworten ihre Filme, ihre Arbeitsweise und ihre Berufsethik.

 

JOURNALISMUS

Der Journalismus war mein Schlüssel zur Welt, der mich Unbekanntes entdecken liess. Ich glaube nach wie vor an seine Kraft und Wichtigkeit. Wenn ich an einem Drehort Journalisten antreffe, arbeiten wir parallel; ich habe grossen Respekt für ihre Arbeit. Sie haben wenig Zeit, sammeln Fakten und machen daraus Informationen für das breite Publikum. Wenn ich in «Cahier Africain» die politische Situation in der Zentralafrikanischen Republik im Detail hätte erklären müssen, wäre mir kein Raum mehr für meine Geschichte geblieben. Doch ich kann auf die Arbeit der Journalisten verweisen, die sich auf die Fakten konzentriert. Der Dokumentarfilm beantwortet andere Fragen, er zeigt, wie die Dinge genau geschehen sind. Dafür ist im Journalismus zu wenig Platz.

 

RÜCKKEHR

Ich bin für viele meiner Filme an bekannte Orte zurückgekehrt: für «Cahier Africain» zu Amzine aus «Carte Blanche», für «Pepe Mujica» zu Pepe Mujica aus «Tupamaros», für «Zeit der Roten Nelken» zu den Bunkes aus «Tania la Guerillera». Ein Film ist etwas Lebendiges, das mit den Leuten weiterlebt, deren Geschichte man erzählt und die ihre Geschichte erzählen. Wir bleiben miteinander verbunden, und irgendwann verspüre ich das Bedürfnis, zurückzukehren. Meine Filme ­entstehen aus den Menschen und den Beziehungen, die wir knüpfen.

 

VERANTWORTUNG

Filmen bedeutet eine grosse Verantwortung! Ich kann nicht in einem Mädchen neue Ideen wecken und sie dann im Stich lassen, wenn der Film fertig ist. Ich habe in ihr ein Feuer entfacht; das ist schön, aber es bedeutet auch, dass ich sie weiterhin begleiten muss. Arlette zum Beispiel sprang von der Leinwand direkt in mein Leben. Das Mädchen hatte weder Pass noch Geburtsurkunde, und wir mussten alle Hebel in Bewegung setzen, um ihr eine Knieoperation in einem Spital in Deutschland zu ermöglichen. Eigentlich hätte sie nach sechs Wochen zurückreisen sollen, doch wegen des Kriegs in der Zentralafrikanischen Republik war dies nicht möglich. Also nahm ich sie bei mir auf. Es gibt keine Trennung zwischen meinen Filmen und meinem Leben. Glücklicherweise habe ich es nie bereut, in das Leben eines Protagonisten eingetreten zu sein. Doch bei Esther aus «Esther und die Geister» musste ich akzeptieren, dass sie andere Vorstellungen vom Leben hat als ich. Ich habe sie fünfmal an der Schule eingeschrieben, und sie hat sie jedes Mal verlassen, da die anderen Kinder sie belästigten. Ich habe sie gezwungen, war hart mit ihr und sagte, dass ich sie nicht weiter unterstützen werde, wenn sie nicht zur Schule geht. Jahre später wurde mir klar, dass ich nach meinem Willen handelte und nicht danach, was gut für sie ist.

 

FRAUEN

Ich suche nicht explizit nach Frauen, doch während meiner Recherchen fällt mir oft auf, dass Frauen interessantere Lebensgeschichten haben als Männer. Sie führen mich zu Themen wie Geburt, Emanzipation, Gewalt, Empfindsamkeit – ein viel reicheres Spek­trum. Ich hatte nie den Eindruck, am Drehort wegen meines Geschlechts benachteiligt zu werden. Mit zunehmendem Alter wurde die Arbeit sogar leichter, da die Leute mir schneller vertrauen. Doch ich arbeite nie allein, ich habe immer einen Kameramann und einen Toningenieur dabei. Die Leute stehen also stets einer Frau und zwei Männern gegenüber.

 

REVOLUTION

Ich glaube an die Revolution und an die Notwendigkeit von Gerechtigkeit. Gewisse Konflikte können nur durch eine Revolution gelöst werden. Sie bricht alte Strukturen auf und reisst Mauern nieder – auch in den ­Köpfen der Leute. Wie ein Film, der immer auch eine Gelegenheit ist, seine Meinung zu ändern und sich zu öffnen.

 

REISEN

Wenn ich einen Film drehe, kommt irgendwann der Moment, an dem ich nicht mehr unterscheide zwischen hier und dort. Mir fallen kleine Dinge auf, wie zum Beispiel dass ich hier in Deutschland schlafen kann und dort nicht; aber ich habe nicht das Gefühl des Hin- und Herreisens. Das liegt auch daran, dass ich die Orte, an denen ich arbeite, sehr gut kenne. Das Dorf PK12, Schauplatz von «Cahier ­Africain», ist mir ebenso vertraut wie mein Quartier in Berlin.

 

ARMUT

Wenn ich mit Menschen zusammenarbeite, respektiere und schätze ich, was sie mir geben. Wir arbeiten zusammen, also ist es für mich klar, dass ich meinen Protagonisten einen Lohn zahlen muss für die Zeit, die sie mir widmen. Es ist wichtig, einander auf Augenhöhe zu begegnen. Pepe Mujica war damals Präsident von Uruguay, doch er erhielt wie alle anderen ein Tagesentgelt. Das war eine Frage des Respekts, auch wenn er das Geld dann gespendet hat. Ich weiss, dass dies unter Dokumentarfilmern sehr umstritten ist. Gewisse sagen, bezahlte Protagonisten seien nicht mehr frei, sondern lieferten das, was von ihnen verlangt wird. Ich sehe das anders.

 

AFRIKA

Meine Ankunft auf dem afrikanischen Kontinent war ein ganz besonderer Moment für mich. Damals dachte ich nicht gross darüber nach, ich verspürte einfach das Bedürfnis, mein Wissen und meine Erfahrung zu hinterfragen und von vorne zu beginnen, an einem Ort, wo ich von nichts eine Ahnung habe. Dieser Neuanfang tat mir sehr gut. Bei meinem ersten Aufenthalt in Benin schaute ich erst einmal nur zu. Diese Reise entstand aus der Geschichte eines nigerianischen Fussballers, der in Deutschland ein grosser Star war und seiner Familie ein Schiff gekauft hatte. Das Schiff wurde in Westafrika gefunden, mit 450 Kindersklaven an Bord.

 

VERZWEIFLUNG

Zwischen meinen afrikanischen Filmen kehrte ich nach Uruguay zurück, um einen zweiten Film über Pepe Mujica zu drehen. Dieses Projekt war mir sehr wichtig, denn ich wollte einen positiven Film schaffen, der von politischen und sozialen Visionen berichtet und nicht von Krieg. Ich bin nicht verzweifelt, denn ich weiss, wozu ich Filme mache. Ich glaube an die Kraft des Dokumentarfilms und bin überzeugt, dass er einen wichtigen Beitrag leisten kann. «Cahier Africain» zum Beispiel kam in die Kinos, als in Deutschland gerade die vielen Flüchtlinge ankamen. Vielen Zuschauern kam es so vor, als entdeckten sie die Geschichten dahinter. Morgen reise ich nach Äthiopien, um einen Film über Frauen zu drehen, die ihre Träume verwirklichen. Die Situation im Land ist aufgrund der ethnischen und politischen Krise sehr schwierig, doch ich habe im Sinn, einen schönen, positiven und unterhaltsamen Film zu machen, einen Film über Musik: Die Protagonistin ist eine ­Sängerin.

 

SCHÖNHEIT

Die Beziehung zwischen Ästhetik und Inhalt ist eine der ganz grossen Fragen. «Carte Blanche» war ein extrem schwieriger Film, denn wir mussten wegen des Internationalen Strafgerichtshofs genau abwägen, was wir zeigen dürfen und was nicht. Deshalb entschieden wir, unabhängig von der Ästhetik alles in den Film aufzunehmen, was der Geschichte dient. In der Regel tausche ich mich aber vor Ort intensiv mit meinem Kamera­mann aus, und wir suchen nach der besten Art, die Leute würdevoll darzustellen. Für das Interview mit Amzine in «Cahier Africain» brauchte ich drei Jahre: Entweder wollte sie nicht, oder wir hatten keine Zeit, oder ich war nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Eines Tages stimmte auf einmal alles – der Ort, die Lichtverhältnisse, die Stimmung, die Zeit – und so entstand dieses Interview, das mir sehr gefällt und in dem sie ihre Persönlichkeit in allen Facetten darstellen kann.

 

EINFLÜSSE

Ich wurde nicht von einem / einer bestimmten Filmschaffenden beeinflusst, doch die Filme der Achtzigerjahre haben mich stark geprägt; ich habe sie regelrecht verschlungen. Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die grosse Freiheit, mit der sie ihre Geschichten erzählen, aus verschiedenen Blickwinkeln heraus, in Form eines Spiel-, Dokumentar-, Animations- oder Experimentalfilms. Meine persönliche Handschrift ist in meinen Filmen sicher zuweilen erkennbar, doch ich mache mir vor jedem Projekt Gedanken über die Form, die stets dem Inhalt angepasst ist. Den Umgang mit den erzählerischen Mitteln habe ich in den Achtzigerjahren gelernt.

 

AUSZEICHNUNGEN

Der Dokumentarfilm steht anders als der Spielfilm nicht im Rampenlicht, sondern kommt meist an zweiter Stelle. Ich freue mich über Auszeichnungen, denn sie verhelfen seinen Themen zu mehr Aufmerksamkeit. Der Menschenrechts-Filmpreis zum Beispiel macht Filme in Milieus bekannt, wo sie sinnvoll eingesetzt werden können. Und der Schweizer Filmpreis ist eine sehr wichtige Auszeichnung, auf die ich stolz bin.

▶  Originaltext: Französisch

 

Heidi Specogna

wurde 1959 in Biel geboren. Nach einer Journalismus-­Ausbildung studierte sie von 1982 bis 1987 Dokumentarfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. 2007 erhielt sie den Schweizer Filmpreis für ihren Dokumentarfilm «The Short Life Of José Antonio Gutierrez», 2017 für «Cahier Africain». Zurzeit arbeitet sie an zwei Filmen: «Wachs und Gold» über eine äthiopische Musikerin und ein Porträt der aus Neuchâtel stammenden Fotografin Claudia Andujar, die nach Brasilien ausgewandert ist. Zudem unterrichtet sie an der Filmakademie Baden-Württemberg. 2019 wurde Heidi Specogna mit dem Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste in Berlin ausgezeichnet. Sie ist Ehrengast der Solothurner Filmtage 2020, die ihr eine grosse Retrospektive widmen.

Der Standpunkt von Jim McKay

Das Gespräch führte Pascaline Sordet
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Florian Keller
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