MENU Schliessen

«Die Unkompliziertheit, die Lust an der Arbeit erinnern mich an Montréal»

Das Gespräch führte Kathrin Halter
06. Januar 2020

«Les Indiens sont encore loin» von Patricia Moraz wird in Solothurn im Programm «Cinéma Copines» gezeigt.

Die neue Filmtage-Direktorin Anita Hugi über den Geist von Solothurn, ihre Angebote ans junge Publikum, den Frauen­anteil im Programm und ihre Regel Nummer eins beim Diskutieren über Film. 

 

Sind Sie gut gestartet?

Ja, sehr gut. Ich habe Anfang August angefangen, seither ging alles sehr schnell.

 

Darf man trotzdem schon eine «Ausgabe Hugi» erwarten? 

Es geht mir nicht darum, möglichst schnell eine Marke zu setzen, sondern zunächst darum, die Filmtage mit ihrem grossen Know-How und ihrer Kultur von innen gut kennenzulernen. Also bleibt, was die Sektionen und Strukturen anbelangt vorerst mal vieles gleich – mit ein paar neuen Akzenten. Die Tradition bewahren und Zukunft gestalten – so habe ich das schon in Montreal gehalten, auch aus Respekt gegenüber der Leistung meiner Vorgängerin und meiner Vorgänger.

 

Worin liegen die neuen Akzente?

Wir möchten jungen Filmschaffenden aus allen Filmmétiers sowie jungen Zuschauern einen zusätzlichen Anreiz geben, an den Filmtagen teilzunehmen, gemeinsam Filme zu schauen, sich auszutauschen, Kolleginnen und Kollegen aus anderen Landesteilen kennenzulernen und neue Impulse zu erhalten. Solothurn ist der Ort, wo sich die Schweiz begegnet. Deshalb gibt es Samstag Nacht zum ersten Mal ein «Fest der Filmschulen», in der neuen Location Attisholz vor den Toren Solothurns. Das Fest haben wir zusammen mit der HEAD, der ECAL, der HSLU und der ZHdK auf die Beine gestellt. Das Programm im ehemaligen Industrieareal beginnt mit einem «Hot Spot: Doc», danach folgt unsere «Upcoming Award Night. Auch das Konzert am Eröffnungsabend der Band Puts Marie, der letztjährigen Gewinnerin der Sektion Best Swiss Video Clip, dürfte vom ersten Festivaltag an jüngere Zuschauer ansprechen.   

 

Ist das Publikum von Solothurn überaltert?

Überhaupt nicht, doch es geht darum, die Zukunft zu gestalten. Die meisten Zuschauer in den Schweizer Kinos und auch an den Filmtagen sind über vierzig, das vermeldet die Statistik. Zugleich gibt es ein starkes junges Filmschaffen und vier öffentliche Filmhochschulen im Land – man kann das in Solothurn auch an den diesjährigen Kurzfilmen sehen: ein starker Jahrgang! Jenseits von Alterskategorien geht es mir aber um das Medium Film und das Kinoerlebnis an sich, um seine Zukunft in diesem Land.

 

Letztes Jahr gab es eine lebhafte Diskussion über die Ausrichtung der Filmtage respektive die Frage, ob Solothurn wieder mehr «Werkschau» wie in frühen Jahren statt «Festival» mit einer kuratierten Auswahl sein soll. Wie positionieren Sie sich hier?

Solothurn war schon immer «Werkschau». Gleichzeitig gab es wie im vergangenen Jahr wieder über 600 Einreichungen, also muss man per se eine Auswahl treffen, das liegt in der Natur der Sache. Allerdings eine repräsentative Auswahl, die das Schweizer Filmschaffen in seiner ganzen Vielfalt zeigt.

 

Dazu braucht es Auswahlkriterien. Welche sind das?

Es gibt keine Liste von Auswahlkriterien, es gibt ein Bewusstsein und das zugewandte Auge der  Auswahlkommissionen. Zuerst einmal wollen wir natürlich starke Filme, Filme, die etwas wagen, formal und thematisch. Allerdings ist Solothurn, anders als andere Festivals, nicht nur ein Premieren-Festival. Das Panorama bietet eine verlässliche Übersicht des aktuellen Schweizer Filmschaffens und seiner Jahresproduktion.

 

Braucht es nicht eine Platzgarantie für etablierte Filmemacher?

Wie wäre «Platzgarantie» zu verstehen? Es geht um Leidenschaft und Liebe zur Sache. Ich war nicht beteiligt an der letztjährigen Diskussion. Ich finde es aber nicht gut, wenn die einen gegen die anderen – etablierte gegen junge Filmschaffende – ausgespielt werden. Mein Credo ist die Vielfalt. Man fragt sich doch eher: Was ist besonders dieses Jahr? Was fällt auf? Welche Filme sind spannend, wagen etwas, auch wenn sie vielleicht nicht makellos sind? Zugleich ist das Auswahl­prozedere eine ausgeklügelte, demokratische Sache, mit einer ausgewogenen Jury, in der sowohl Deutschschweizer wie Westschweizer, Produzenten wie Filmschaffende, drei Mitarbeitende der Filmtage sowie  drei externe Kommissionsmitglieder vertreten sind. Jeder Film, der einstimmig gewählt wird, wird direkt aufgenommen. Und natürlich will man auch Filme aus allen Sprachregionen, von Jungen wie von Älteren, von Frauen wie von Männern. Das allererste Argument allerdings sind die Filme selbst.

 

Letztes Jahr wurde die internationale Charta für Gleichstellung der Geschlechter und Diversität bei Filmfestivals unterzeichnet, auf Initiative von SWAN. Wie hat Solothurn auf diese Verpflichtung reagiert?

Wir dokumentieren die eingereichten und die ausgewählten Filme. Bei den ausgewählten Kurzfilmen – also bis 59 Minuten – beträgt das Verhältnis zwischen den Geschlechtern zum ersten Mal praktisch 50:50, das ist sehr erfreulich. Aber nicht nur dort: Auch unter den Nominationen zum «Prix de Public» sind es fünf Filme von Frauen und sieben Filme von Männern. Im «Prix de Soleure» ist es ein Verhältnis von 40 Prozent Frauen zu 60 Prozent Männern. Ich finde, das sind gute Zahlen.

Quoten gibt es bei der Auswahl jedoch keine; zuerst achten wir, natürlich und offensichtlich, auf die Qualität der Filme. Bei der Charta geht es einerseits um eine präzise Dokumentation, anderseits um Bewusstsein und um Selbstvergewisserung. Ebenso kostbar ist mir, dass dieses Jahr in allen Sektionen Debut-Filme vertreten sind.

 

A propos gutschweizerisch: Wie sehr unterscheidet sich die Kultur von Solothurn von jener in Montréal, wo Sie erst als Festivalkuratorin und dann zwei Jahre lang Programmdirektorin waren?

Wie Montréal ist Solothurn eine Festivalstadt. Als ich zum ersten Mal im Büro der Filmtage in der «Kulturgarage» war, erinnerte mich der Geist gleich an Montréal: die Unkompliziertheit, die Lust an der Arbeit, die Bereitschaft, statt Probleme zu wälzen, neue Lösungen zu suchen. Wie in Montréal gehört in Solothurn die Kultur übrigens zur Identität der Stadt – auch wirtschaftlich. Kaum eine Schweizer Stadt vergleichbarer Grösse hat ein solch hohes Kulturbudget.

 

In der Schweiz entstehen viel mehr Dokumentarfilme als Spielfilme, 2019 waren es mehr als 75 Prozent der Kinofilme. Wie spiegelt sich das im Programm von Solothurn? Und wie positioniert sich Solothurn gegenüber Visions du Réel?

Da wir eine Werkschau sind, zeigen wir auch ausgewählte Filme, die schon an anderen Festivals gestartet sind, also auch aus Nyon. Der Dokumentarfilm hat in der Schweiz im Gegensatz etwa zu Deutschland und Frankreich auch im Kino einen sehr hohen Stellenwert. Und in der Tat sind die Dokumentarfilme dieses Jahr besonders stark vertreten. Thematisch auffallend ist die Häufung von Filmen zur Kriegs- und Fluchtthematik; es hat mich sehr berührt, so viele Filme zu sehen, die sich dem Krieg in Syrien und seinen Folgen beschäftigen.

Aktuell entstehen aber auch viele Serien, in allen Sprachregionen der Schweiz. In  unserem Fokus-Programm «Im Bann der Serien» wollen wir uns an diversen hochkarätig besetzten Panels darüber austauschen, was da gerade geschieht und entsteht. Und auch Fragen aufwerfen. Was bedeutet der Serien-­Boom für das Schweizer Filmschaffen? Wie wirkt sich die gehäufte Serienproduktion auf die Spielfilm- und die Dokumentarfilmproduktion aus?

 

Solothurn wird immer wichtiger als Auswertungsplattform von Schweizer Filmen. Wie soll man darauf reagieren?

Die Solothurner Filmtage zählten letztes Jahr rund 65ʼ000 Eintritte. Succès Festival Suisse ist deshalb ein relevantes Anliegen, die Gutschriften wären für den Schweizer Film sehr kostbar und eine Investition in kommende Schweizer Filme. Ich hoffe, dass dies mit in der Kulturbotschaft 2021-24 eingeführt wird.

 

Weshalb findet die Nacht der Nominatio­nen neu schon am zweiten Festivaltag statt? So kann die Schweizer Filmakademie vor der Abstimmung nicht mehr alle Filme in Solothurn sehen.

Die Nacht der Nominationen wurde auf Initiative des Bundesamtes für Kultur auf den Beginn der Filmtage vorverschoben. So erhält das breite Publikum die Möglichkeit, die nominierten Filme im Rahmen des Filmtageprogramms auf der grossen Leinwand zu sehen.

 

Solothurn war lange Jahre ein Ort lebhafter filmpolitischer Diskussionen. Das hat sich abgekühlt. Wollen Sie die Debattenkultur beleben? 

Es gibt ja bereits Gefässe, die dafür vorgesehen sind: An den Branchenanlässen einerseits, zum Beispiel erhält der ARF/FDS am Samstag einen prominenten Platz für eine Präsentation mit anschliessender Diskussion über Löhne und Sozialversicherungen von Regie- und Drehbuchschaffenden. Ein zentrales Thema, denn Regie- und Autoren sind Herz des Filmschaffens. Auch an den Panels des Programmfokus «Im Bann der Serien» und an den Filmbrunches wird diskutiert werden.  Das Rahmenprogramm ist sehr vielseitig. Mir ist wichtig, dass Solothurn sich um beides kümmert: um das Zeigen der fertigen Werke und den Prozess des Filmemachens.

Gibt es wirklich weniger Diskussionen oder finden sie vielleicht anders statt? Vielleicht hat man sich damals mehr als Gruppen definiert, heute läuft das eher direkt ab, in Einzelgesprächen, zum Beispiel in der Beiz nach der Vorstellung. Dafür gibt es weitere Orte für Austausch und Begegnung: unsere neue FutureLounge zum Beispiel im Künstlerhaus S11, das neu die ganzen Filmtage hindurch einen neuen Treffpunkt bietet, mit WLAN, gemütlichen Sitzgelegenheiten – und ohne Konsumzwang.

 

Die Q&A nach Filmvorführungen können keine Diskussionen ersetzen. Sie wirken manchmal mehr wie ein Marketinginstrument…

Das stimmt schon, Q&As und Diskussionen sind nicht dasselbe. Aber weitergehende, auch kritische Fragen kann man auch an einem Q&A stellen. Dabei ist für mich Regel Nummer eins das Wohlwollen Filmschaffenden gegenüber.

Ich kann mir auch vorstellen, in der Ausgabe von 2021 neue Diskussionsforen zu schaffen, an denen Themen und Fragen aus Filmen aufgegriffen werden. Das könnte aktuell zum Beispiel Eurozentrismus sein. Auch an den 55. Filmtagen wird es Gesprächsrunden geben. Der Austausch zwischen Filmschaffenden und Publikum interessiert mich.

 

Fünf persönliche Lieblingsfilme aus der Schweiz?

Unmöglich! (lacht) Ich nenne hier nur einen: «Les Indiens sont encore loin» von Patricia Moraz, der in unserem filmhistorischen Programm «Cinéma Copines» zu drei Westschweizer Pionierinnen laufen wird. Das ist ein fantastischer Film, von dem schon viele gehört, aber den nur wenige wirklich gesehen haben. Das ist sicher ein Lieblingsfilm von mir.

 

▶  Originaltext: Deutsch

Anita Hugi

kam 1975 in Grenchen zur Welt und wuchs in Biel auf. Nach dem Studium des Übersetzens in Zürich und Strassburg bildete sie sich in Kulturkommunikation und Journalismus weiter. Ab 1999 freie Mitarbeiterin u.a. bei NZZ am Sonntag, WoZ, Klartext, Schweizer Radio International.

Seit 2005 verantwortliche Redaktorin von «Sternstunde Kunst» auf SRF, wo sie mehr als 130 Schweizer Produktionen begleitet und unter anderem auch die Filmreihe «Cherchez la femme» produziert hat. 2016 übernahm sie die Programmdirektion des Festival International du Film sur l’Art (FIFA) in Montréal, wo sie alle Programmsektionen geleitet und eine Sektion für neue Erzählformen etabliert hat. Gründerin und Inhaberin der Filmproduktions­firma Narrative Boutique GmbH. Eigene Dokumentarfilmprojekte (Regie, Produktion) «Die rote Hanna», «Dada-Data» (Grimme Online Award 2016) und «Undine Gruenter – Das Projekt der Liebe» (LiteraVision Filmpreis 2016). Mitglied diverser Jurys. Anita Hugi lebt in Zürich und Biel.

▶  Originaltext: Deutsch

Der Standpunkt von Jim McKay

Das Gespräch führte Pascaline Sordet
06 Januar 2020

Der Bandleader

Kathrin Halter
06 Januar 2020

Rettet den Herbst!

Florian Keller
06 Januar 2020

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife