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Der Spielfilm, Sorgenkind des Schweizer Films?

Pascal Blum / Pascal Gavillet
21. Dezember 2018

«Sarah joue un loup-garou», Erstling von Katharina Wyss.

Diese Frage wird vom Verband der ­Schweizerischen Filmjournalisten an ­einem Podium in Solothurn gestellt. Wir ­haben schon einmal zwei Kritiker um einen Kommentar gebeten. 

Pascal Blum

Filmredaktor Tages-Anzeiger

Aus den letzten zwei Jahren fallen mir vier beeindruckende Schweizer Spielfilme ein. Alle stammen von RegisseurInnen, die um 1980 geboren wurden: «Sarah joue un loup-garou» von Katharina Wyss, «Dene wos guet geit» von Cyril Schäublin, «Ceux qui travaillent» von Antoine Russbach (alles Debüts) und «Der Unschuldige» von Simon Jaquemet (ein Zweitling).

Ist das wenig? Oder reicht das nicht eigentlich, wenn man schaut, was für ein winziges Land diese Filme hervorgebracht hat?

Abgesehen vom Überraschungserfolg «Dene wos guet geit» waren das zwar keine Blockbuster. Aber wenn wir mal das ganze Geschwätz abdrehen, dass jedes Mal hochgefahren wird, wenn es um die Marginalie Schweizer Spielfilm geht – Festivals sehen uns nicht als Filmnation, in ausländischen Kinos herrscht zu wenig «Sichtbarkeit», im Inland ist der Marktanteil mikroskopisch, und zu Tanners Zeiten war eh alles besser – und uns die Filme anschauen, dann bekommen wir Erstaunliches über unsere Zeit erzählt.

Die Freiburgerin Katharina Wyss und der Zürcher Cyril Schäublin zeigen in ihren Filmen, wie sich heute aus Gefühlen Kapital machen lässt – sei das im Rollenspiel der Hauptfigur in «Sarah joue un loup-garou» oder im Vorgehen der Enkeltrickbetrüger in «Dene wos guet geit». Im Zwang zur Selbstdarstellung einen eigenen Ausdruck zu finden, wird immer komplizierter: Trennen von der Kunst und den Produkten der Popkultur lässt sich das sowieso kaum mehr.

Das Faszinierendste an «Der Unschuldige» war für mich, wie Simon Jaquemet das Bild einer Schweiz ohne Eigenschaften entstehen lässt. Ein Land der Vor- und Nichtorte, wo sich unscheinbare Menschen in Einkaufspassagen treffen. Wenn die Hauptfigur Ruth in Wahnvorstellungen verfällt, dann auch deshalb, weil das auffällige Verhalten einer Person, die einen Puls spürt, in einer an Widerstandslosigkeit krankenden Gesellschaft umgehend pathologisiert werden muss.

Der Genfer Antoine Russbach behandelt in «Ceux qui travaillent» den Niedergang eines Traders, der Schiffe für den Warenverkehr chartert, und kommt zu einem ähnlichen Krankheitsbild: In der Schweiz herrscht offenbar ein kollektiver Irrsinn, nämlich der, dass wir die Interessen unserer Arbeitgeber so weit verinnerlicht haben, dass wir bereit sind, zum Äussersten zu gehen.

Was muss uns da zu denken geben? Zum einen, dass so mancher Kritiker, der am liebsten Marktanteile ausrechnet, an den Festivals die spannendsten Spielfilme des Landes gar nicht wahrnimmt. Und zum anderen, dass fast alle erwähnten RegisseurInnen im Ausland studiert haben.  

▶  Originaltext: Deutsch

Pascal Gavillet

Filmredaktor Tribune de Genève

Spricht man vom Schweizer Film, so steht gewöhnlich der Dokumentarfilm im Rampenlicht. Vom Spielfilm ist weniger die Rede. Sogar fast nie. Das Problem ist nicht neu – wir kennen es seit Jahrzehnten. Als ob man in der Schweiz Angst hätte, sich «à corps perdu» auf den Spielfilm einzulassen, seine Regeln zu brechen und Geschichten zu erzählen – über unser Land. Oder auch nicht. Diese Angst lähmt. Man getraut sich nicht, universell verständliche Drehbücher zu schreiben, den starren Rahmen regionaler Problematiken zu sprengen, der Fantasie freien Lauf zu lassen, Themen des Genrefilms anzugehen. Solange diese Verkrampfungen andauern, bleibt die Fiktion das Stiefkind eines Filmschaffens, das befürchtet, sich innerhalb der europäischen (und internationalen) Produktion nicht durchsetzen zu können, obschon es sich ihr doch gerne annähert, wie die zahlreichen Koproduktionen zeigen, die Jahr für Jahr entstehen.

Könnte sich der Schweizer Spielfilm dieser kreativitätshemmenden Zügel entledigen, erhielte er einen neuen Elan, um mit anderen Ländern mitzuhalten. Doch dazu braucht es anspruchsvollere, verrücktere und bissigere Drehbuchautoren (sprich Drehbücher) und vor allem eine Philosophie des Filme­machens, die der kreativen Freiheit ihren Stellenwert zurückgibt und sich dranmacht, die Konkurrenz in anderen Ländern aufzumischen. Dies sollten, ja müssen die Filmschulen beachten.

Der Schweizer Spielfilm hat auch ein Problem, weil er zu wenig Selbstwertgefühl hat. Solange wir diesen Minderwertigkeitskomplex nicht aus unseren Köpfen verjagen, werden wir von ihm gejagt bleiben. Solange die Filmschaffenden sich diesen Herausforderungen nicht stellen, wird der Schweizer Film zwar durchaus beachtet, aber marginal bleiben. Spielfilme wie «Die Schweizer­macher» oder «Ma vie de Courgette», die einmal pro Jahrzehnt herausragen und gleichzeitig die Kinokassen füllen, sollten künftig nicht mehr Ausnahmen sein, die die Regeln bestätigen, sondern sie müssen zur Regel werden. Nur wenn sich Filmschaffende dazu aufraffen, wird der Spielfilm  Marktanteile gewinnen und sich in Europa und der ganzen Welt verkaufen lassen.

▶  Originaltext: Französisch

Eine Diskussion des SVFJ

Der Marktanteil des Schweizer Films im Heimmarkt gehört zu den tiefsten in Europa, im Ausland sind Schweizer Spielfilme im Kino kaum zu sehen. Liegt die Hoffnung in der jüngeren Generation? Braucht es mehr Geld? 

Teilnehmer:  Teresa Vena (freischaffend), Margret ­Köhler (freischaffend), Denise Bucher (NZZa.S., Frame), Florian Keller (WOZ). Moderation: Beat Glur.

Mittwoch, 30. Januar, 16:00-17:00

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