© Kenza Wadimoff
Cléa Masserey (CM): Das Label wurde von Pro Infirmis geschaffen, um Inklusion zu fördern und für die Anliegen der Organisation zu sensibilisieren. Unsere Rolle bestand darin, in Zusammenarbeit mit der Koordinatorin des Labels, Nicole Grieve, und der Festivalleitung ein Pflichtenheft zu entwickeln, wobei eine Person eigens für diese Aufgabe eingesetzt wurde.
Mélanie Courvoisier (MC): Die Idee war schrittweise vorzugehen, indem wir uns im Vier-Jahres-Rhythmus auf jeweils nur eine Form von Beeinträchtigung konzentrieren. So waren also Menschen mit Sehbehinderungen unser erster Schwerpunkt. Doch wir werden diese Initiative auch in den nächsten Jahren weiterführen, wenn andere Themen ins Zentrum rücken.
CM: Um das richtige Publikum zu erreichen, müssen die betroffenen Personen von Anfang an mit einbezogen werden. Für Audiodeskriptionen, zum Beispiel, arbeiten wir mit Partnern wie «L’Art d’Inclure», die uns helfen, unsere Vorführungen von A bis Z für Sehbehinderte zugänglich zu machen. Zudem stehen wir in intensivem Austausch mit unserem Partner Regards Neufs, um sicherzustellen, dass wir allen Bedürfnissen gerecht werden.
MC: Die Devise «Nichts über uns ohne uns» gibt den Grundgedanken wieder: Die Initiativen müssen gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen entwickelt werden. Dazu braucht es Zeit und Ressourcen, um Pilotprojekte durchzuführen. Als grosses Festival stehen wir in der Verantwortung, uns aktiv in diese Thematik einzubringen. Selbst wenn die Ergebnisse anfänglich nur wenigen dienen, handelt es sich um eine langfristige Investition. Dazu sind eigens geschaffene Stellen wie die von Cléa und die Unterstützung der Festivalleitung wichtig, denn der Personal- und Finanzaufwand ist beträchtlich. Schliesslich müssen wir die Initiativen umsetzen, testen und die nötigen Veränderungen angehen.
CM: Wir führten schon vor Erlangen des Labels Arbeitsgruppen und Gesprächsrunden mit verschiedenen Teilnehmenden ein. Zuerst arbeiteten wir mit Senioren und Seniorinnen aus der Region, dann mit Sehbehinderten und schliesslich mit Gehörlosen. In den Gesprächen ging es um Kommunikation, den Empfang vor Ort und den Inhalt des Festivals. Anschliessend untersuchten wir die praktischen und finanziellen Möglichkeiten, um die Vorschläge der Teilnehmenden umzusetzen. Im vergangenen Jahr liessen wir zum Beispiel die «Masterclass» von Jean-Stéphane Bron in Gebärdensprache übersetzen, was sehr gut ankam.
MC: Audiodeskriptionen sind ziemlich kostspielig, rund 10‘000 Franken für einen Spielfilm. Hier müssen wir eine Auswahl treffen, vor allem da wir zahlreiche Filme als weltweite oder internationale Vorpremieren zeigen.
CM: Mich hat der Mut der Beteiligten, neue Ideen auszuprobieren, beeindruckt. Mit der Gruppe der Sehbehinderten stellten wir unseren Ansatz infrage : «Wieso beschränken wir Audiodeskriptionen auf ein paar wenige unserer 160 Filme?» So kam die Idee auf, weitere Filme zugänglich zu machen, indem wir zusätzlich Untertitel laut vorlesen lassen. Diesen Ansatz haben wir zwei Jahre lang getestet. Obwohl die Reaktionen nicht durchwegs positiv ausfielen, suchen wir weiter nach Lösungen, um uns ohne zu grosse Zusatzkosten zu verbessern. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Barrierefreiheit des Festivals von A bis Z, also vom Lesen des Programms bis zur Ankunft im Kinosaal. Wir haben auch unsere Freiwilligen geschult, damit sie richtig reagieren können, indem sie zum Beispiel Besuchern und Besucherinnen, um Bestellungen an der Bar zu vereinfachen, eine Speisekarte in Gebärdensprache geben. Schliesslich luden wir eine gehörlose Person ein, die unseren Freiwilligen von ihrer Behinderung erzählte und ihnen zeigte, wie man jemanden in Gebärdensprache begrüsst – eine einfache, aber bedeutsame Geste.
MC: Dies bildet einen festen Bestandteil unseres Festivals. Auf einer eigenen Unterseite unserer Internetseite führen wir alle unsere Aktivitäten und Massnahmen in diesem Bereich auf. Zu Beginn gewisser Vorführungen machen wir Durchsagen, um Untertitel, Audiodeskriptionen und anderes zu erklären. Diese Massnahmen werden von uns prominent kommuniziert, insbesondere durch unseren Präsidenten Raymond Loretan. So wurde zum Beispiel die «Masterclass» in Gebärdensprache aufgezeichnet und auf unserer Internetseite mit Dolmetscher veröffentlicht. Dieses Jahr führen wir mit dem Verein «Relax Culture» erstmals zwei Relax-Vorführungen durch. Ziel dieser Veranstaltungen ist die Förderung des Austauschs unter allen Zuschauenden. Während des Films kann das Publikum sprechen, sich frei bewegen und im Saal ein und aus gehen.
MC: Inklusion ist eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit, denn Kultur gehört allen, einschliesslich Menschen mit Behinderungen. Dieser Ansatz macht das Festival für eine Vielzahl von Menschen zugänglich, von Personen mit eingeschränkter Mobilität bis hin zu Eltern mit Kinderwagen. Wir wollen das Publikum von Visions du Réel nicht einfach vergrössern, sondern vielmehr vielfältiger gestalten.
CM: Letztes Jahr lancierten wir eine neue Initiative, bei der wir einen französischsprachigen Film mit Untertiteln und zusätzlichen Informationen für gehörlose und hörgeschädigte Menschen ausstatteten. Die Mutter eines gehörlosen Kindes im Kinosaal war gerührt von der Initiative und schlug mir eine Zusammenarbeit mit der Vereinigung von Eltern hörgeschädigter Kinder des Kantons Waadt (Association Vaudoise de Parents d’Enfants Déficients Auditifs, AVPEDA) vor, der sie angehört. Dies führte zu einer Partnerschaft und für 2024 ist eine Zusammenarbeit geplant.
MC, CM: Wir würden noch mehr Raum schaffen für Experten und Expertinnen , für betroffene Personen, welche die Hindernisse und Herausforderungen kennen, denen sie tagtäglich begegnen. Wir würden zum Beispiel gerne die Barrierefreiheit unserer Internetseite gründlich prüfen lassen, denn Informationsbeschaffung ist einer der ersten Schritte, um an das Festival zu gelangen. Es ist enorm wichtig, unsere Massnahmen im Bereich des Kulturangebots von betroffenen Personen bewerten zu lassen, vom Informationszugang bis hin zur architektonischen Barrierefreiheit.
Visions du Réel organisiert seit mehreren Jahren in Zusammenarbeit mit der Zauberlaterne eine Filmvorführung für Kinder und Erwachsene. Diese wird nun zum ersten Mal gehörlosen Kindern und Kindern mit geistiger Behinderung zugänglich gemacht. Sie wird simultan in ergänzte Lautsprache (ELS) übersetzt und als «Relax»-Vorführung angeboten, um eine entspannte und wohlwollende Atmosphäre zu schaffen. Die Vorführung wird erstmals in Form eines Filmvortrags mit dem Titel «Kinder zuerst» durchgeführt, bei dem die Rolle von Kindern als Motive in der Filmgeschichte thematisiert wird. Neben weiteren Veranstaltungen wird auch eine «Masterclass» mit der Regisseurin Alice Diop in Gebärdensprache übersetzt. Der Film «Feu feu feu» von Pauline Jeanbourquin wird von Regards Neufs mit Unterstützung von RTS mit Audiodeskription versehen.
Teresa Vena und Adrien Kuenzy
22 März 2024