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Weniger Filme… um das Publikum zurückzugewinnen?

Xavier Pattaroni
01. November 2022

Xavier Pattaroni © zvg

Wie viele andere Kulturbereiche leidet auch das Kino immer noch unter den Auswirkungen der Coronakrise, und die Rückkehr zu einer relativen Normalität braucht Zeit. Das Publikum löst sich erst zögerlich von den heimischen Sofas, um stattdessen ins Kino zu gehen – obwohl diejenigen, die sich dazu aufraffen, danach meist glücklich sind über die wiederentdeckte Gemeinschaftserfahrung.

Wie können wir also das Publikum zurückerobern, das sich schon vor der Coronakrise zunehmend von den Kinosälen abwandte? Eine Wunderlösung gibt es nicht, aber verschiedene mögliche Ansatzpunkte. Einer wäre, die Anzahl Kinostarts zu reduzieren. Weshalb? Die Schliessung der Kinos hat ein Phänomen verstärkt, das sich schon seit mehreren Jahren abzeichnete: Seit der Digitalisierung kommen immer mehr Filme auf den Markt, und die Filmverleihe und Kinobetreiber zwingen und/oder ermuntern sich gegenseitig, sie alle ins Programm aufzunehmen, weil sie hoffen, so eine vermutete Publikumsnachfrage zu erfüllen. In der Westschweiz sind für den November und Dezember 2022 innerhalb von neun Wochen 58 Filmstarts geplant. Trotz einem grossen Kinonetz kann bei einer solchen Menge nicht jeder Film adäquat gewürdigt werden. Sind Verleiher und Betreiber noch in der Lage, ihr Programm so zu gestalten, dass Medien und Publikum sich dafür interessieren? Ist es gut, dass die beiden Vertriebspartner stetig Kompromisse machen, um möglichst viele Filme zu zeigen? Kann ein Film sein Publikum noch erreichen, wenn in einem Kino mit drei Sälen zusätzlich zu unzähligen Spezialvorführungen durchschnittlich jede Woche zwei oder drei neue Filme starten müssen? Bei einer solchen Fülle ist es illusorisch, einem Film genügend Zeit für Mundpropaganda zu geben – was immer noch die beste Werbung ist. Ich bin überzeugt, dass eine Straffung des Programms die Vielfalt nicht schmälern würde. Wird das Publikum vom Angebot überfordert, so setzt es oft auf sichere Werte, oder zumindest auf das, was danach aussieht. Alle anderen Filme, die zwar ein paar Mal gezeigt, aber nicht wirklich prominent platziert werden, gehen unter. Die ganz eifrigen Kinogänger, die so oft im Saal anzutreffen sind, dass sie schon fast zum Inventar gehören, freuen sich natürlich über einen solchen Überfluss, doch er trägt nicht dazu bei, ein breites Publikum häufiger ins Kino zu locken.

 

Mut ist gefragt – und schlankere Programme

Durch die Digitalisierung der Gesellschaft haben wir uns daran gewöhnt, alles sofort und ohne Einschränkungen haben zu können. Das Kino bietet das Gegenteil: eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort, um kulturelle Inhalte zu teilen. Wird jeder Film nur wenige Male gezeigt, so verliert er an Sichtbarkeit, das Programm verliert an Klarheit, und das Publikum verliert letztlich das Interesse. Deshalb müsste man eine Auswahl treffen und den Mut haben, einen Paradigmenwechsel einzuleiten – darin liegt die Schwierigkeit! Verleiher und Kinobetreiber würden gut daran tun, dieses Thema mit frischem Blick zu betrachten, und sollten bereit sein, weniger Filme herauszubringen, aber dafür unter besseren Bedingungen. In diesem Zusammenhang müsste auch die schweizerische und europäische Vertriebsförderung angepasst werden, um das Publikumspotenzial eines Films stärker in die Bewertung einfliessen zu lassen. Schliesslich müssten die Kinos, zusätzlich zu allfälligen erfolgsbasierten Förderungen, bei ihren Bemühungen um ein schlankeres Programm unterstützt werden.

 

Xavier Pattaroni, Kino-Programmleiter cinemotion und Vereins-Präsident von Cinémas Romands

 

Originaltext Französisch

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