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Die Einschätzung von Claude Waringo, Luxemburg

Pascaline Sordet
16. November 2018

Claude Waringo

Wie muss man sich die Kinolandschaft Luxemburgs vorstellen? 

Wir produzieren um die fünfzehn abendfüllende Filme pro Jahr, davon sind drei oder vier majoritär mit Luxemburger Regie. Andere sind majoritär mit ausländischer Regie. Man muss wissen, dass die Mehrzahl der Produktionsfirmen für den europäischen Markt mit Unternehmen zusammenarbeiten, deren Reichweite über Luxemburg hinausgeht. In unserem Fall sind unsere Partner seit zwanzig Jahren Artemis Production in Belgien und in Paris die Liaisons Cinématographiques. 


Wie werden die Filme finanziert?
 

Der staatliche Film Fund mit seinem Budget von jährlich 33 Millionen Euro sorgt für eine gesicherte Vorfinanzierung, 28 Millionen davon fliessen direkt in die Produktion. Andere Geldquellen gibt es nicht, weder das Fernsehen noch ein Verleih noch sonst jemand schiesst etwas zu. Zeitgleich mit diesem System begann sich die europäische Koproduktion, wie wir sie heute kennen, durchzusetzen. Klar, schon davor gab es die grossen französisch-italienischen Koproduktionen; ohne strukturbildende Programme wie MEDIA oder Eurimages, die auch die kleineren Länder mit einbeziehen, hätten wir uns aber auf europäischer Ebene kaum behaupten können. Jedenfalls wäre der Weg weitaus schwieriger gewesen. Heute sind Koproduktionen Teil unserer DNA. Praktisch 100 Prozent der vom Film Fund geförderten Filme sind Koproduktionen. 


Wie weit reicht die Zusammenarbeit mit Frankreich? 

Früher entstanden 80 Prozent unserer Filme mit französischer Beteiligung, aber seit sie dort die Grenzen dichtmachen, haben wir uns verstärkt Deutschland zugewandt, die Sprachbarriere spielt keine Rolle mehr. Übrigens haben wir für «By Bye Germany», den letzten Film von Sam Garbaski, der auf der Berlinale 2017 gezeigt wurde, eigens eine Produktionsgesellschaft in Berlin gegründet. 


Was ist der Grund für den Rückgang der Koproduktionen mit Frankreich? 

Das Zerwürfnis begann auf den Tag genau mit dem Ende der Plafonierung der Steuergutschrift in Frankreich. Als es die Obergrenze noch gab, konnten die Leute sich den Rest des Geldes anderswo zusammensuchen. Heute hat ein französischer Produzent kein Interesse mehr an weiteren Koproduktionen, weil er Geld verliert, wenn er einen Teil des Drehs ausserhalb des Landes verlagert. Nun ist es aber so, dass unser Luxemburger System, genau wie das belgische, stets darauf beruhte, lokal eingenommenes Geld auch wieder lokal zu investieren. Frankreich dagegen sagt sich: Geben wir das Geld doch lieber direkt den Herstellern, bevor sie es sich aus dem Ausland holen. 


Eine Form von Protektionismus: Französisches Geld für französische Filme. 

An sich ist es vollkommen verständlich, dass man Dreharbeiten bei sich behalten will. Es handelt sich dabei um einen wirtschaftlichen Konflikt, und da will jede Regierung mit ihrem System so sexy wie möglich dastehen. In Luxemburg sind wir an über der Hälfte der Filme, die wir jedes Jahr herstellen, nur noch minderheitlich beteiligt, während Frankreich kaum mehr koproduziert – trotz seinen grossen kulturellen Bemühungen, die Filme der Welt zu unterstützen. 


Sie haben also Verständnis für das schwindende Interesse französischer Produzenten an Koproduktionen? 

Wenn eine zu 100 Prozent französisch finanzierte und realisierte Produktion möglich ist, ist das für sie kein schlechter Deal. An ihrer Stelle wäre meine Lust, mit anderen zusammenzuarbeiten, auch nicht allzu ausgeprägt. Ich würde gern mal auf der Liste des CNC (centre national du cinéma) nachschauen, wie viele Filme 2018 Koproduktionen waren, jene mit Belgien ausgenommen. Aber das sind für mich genau besehen keine Koproduktionen, sondern Finanzierungsbeihilfen. 


Warum das? 

Belgien ist aus steuerlichen Gründen mit von der Partie, macht dabei aber oft nicht mehr als 100'000 oder 200'000 Euro Gewinn. Davon lebt ein Haufen Leute, Techniker und Schauspieler, die so für den französischen Film arbeiten können. Es ist eine Überlebensstrategie, die funktioniert, ökonomische Gründe sprechen dafür. Ich bin ja selbst jemand, der von der Suche nach Cofinanciers profitiert. Wir gehen allerdings davon aus, dass ein Film mit einem Budget von 2 Millionen, zu dem wir so wenig beitragen, dass wir dann bloss 10 Prozent der Rechte haben, für uns uninteressant ist. Ab 25 Prozent überlege ich mir, einzusteigen. Bei weniger ist es, ehrlich gesagt, witzlos. Produktionsfirmen, die jünger als die unsere sind, machen gerade ihre Erfahrungen mit zehnprozentigen Beteiligungen (weniger geht in der Regel nicht), mir ist es lieber, bloss zwei Langfilme pro Jahr zu machen, diese dann aber mit einem höheren Einsatz und in Eigenregie, als fünf oder sechs, bei denen keiner weiss, wer ich bin, wenn ich am Drehplatz erscheine. 


Was halten sie, global betrachtet, von Förderung durch Steueranreize? 

 Wir haben seit Anfang der Neunziger Jahre damit experimentiert, als eines der ersten Länder, zusammen mit Irland und Australien. Bis zur Krise von 2008 hat das sehr gut funktioniert, danach begannen die grösseren Firmen, die am meisten von den Steuervorteilen profitierten, sich zu fragen, ob sie sich überhaupt noch engagieren sollen. Das System rutschte in die Krise und wurde durch eine reine Kulturförderung ersetzt. 


Um auf Frankreich zurückzukommen, wie gleichen Sie den Rückgang an minoritären Gemeinschaftsproduktionen aus? 

Wir haben die Entwicklung vorausgesehen und öffnen uns jetzt stärker für andere Länder. Wir haben mit Israel koproduziert oder mit Finnland, mehr als vorher schon mit Deutschland; wir haben auch den einheimischen Film vorangebracht. Ein weiteres Novum: die Produktion von Fernsehserien, ob nun auf Luxemburger oder europäischer Ebene. Zum Glück waren wir von den Veränderungen in Frankreich finanziell nicht allzu stark betroffen, wir mussten aber unser System nachjustieren. Heute kommen wir um eine gewisse Aufgeschlossenheit für Filme, die aus guten Gründen ausserhalb unserer Grenzen gedreht werden, nicht mehr herum. Wir arbeiten inzwischen nach einer fabelhaft schlichten Gleichung, dem «eins zu eins»: Jeder Euro, der nach Luxemburg fliesst, entspricht einem Euro Förderung. Rein rechnerisch ist es möglich, gar nicht mehr in Luxemburg zu drehen, und dennoch öffentliche Gelder zu beziehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass unter diesen Bedingungen auch die Zusammenarbeit mit der Schweiz sich neu beleben wird. 


Gibt es dafür schon Beispiele? 

Ja, wenngleich nicht aus jüngster Zeit. Vor fünfzehn Jahren haben wir gemeinsam mit Fama Film an Kinderfilmen gearbeitet, sie haben auch Filme von Frédéric Fonteyne mitproduziert, darunter «Une ­liaison pornographique». Das lief jedes Mal sehr gut, mit Technikern und einem Teil der Postproduktion auf Schweizer Seite. 


Wo sehen Sie den Schweizer Film? 

Betroffen macht mich immer wieder, dass die Schweiz, obwohl sie soviel größer ist, mehr Einwohner hat und deshalb auch mehr Talente als Luxemburg, sich in einer ähnlich schwierigen Lage befindet. Bloss für den einheimischen Markt zu produzieren ist unter finanziellen Gesichtspunkten nicht zwingend, und die grösseren Partner, sprich Frankreich und Deutschland, reissen sich nicht um uns. Weil ich aus eigener Erfahrung weiss, wie schwierig es ist, zwei verschiedene Publikumssegmente anzusprechen, und wie selten Filme die Reise über Sprachgrenzen hinweg schadlos überstehen, fiel mir in den Dossiers eine vertraute Unsicherheit auf: Die Frage, für wen wir Filme machen. 

 Das Gespräch führte Pascaline Sordet 


 ▶ Originaltext: Französisch

Claude Waringo

Claude Waringo ist Produzent und Gründungsmitglied von Samsa Films, der führenden Produktionsfirma Luxemburgs. Mit den fünfzehn Spiel- und Dokumentarfilmen, die er seit 1989 produziert und koproduziert hat, war er auf sämtlichen wichtigen Festivals vertreten, darunter «La promesse » («Das Versprechen») von den Brüdern Dardenne, «L’école de la chair» («Schule des Begehrens ») von Benoît Jacquot oder «Comme t’y es belle » von Lisa Azuelos. 2018 lief «Tel Aviv on fire », eine Koproduktion mit Israel, im Wettbewerbsprogramm von Venedig. Er ist in der Filmpolitik Luxemburgs aktiv, namentlich hat er die «Union Luxembourgeoise des Producteurs Audiovisuels» (ULPA) mitgegründet sowie 2012, zusammen mit Vertretern aller Berufsverbände, die Luxemburger Filmakademie, deren Vorsitz er übernahm. Zwischen 2013 und 2018 war er Jurymitglied des Fonds de développement créatif der SSA.

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