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«Benennen heisst gestalten. Das macht einen wichtigen Teil meiner Arbeit aus»

Pascaline Sordet
02. August 2019

Lili Hinstin, die neue künstlerische Direktorin von Locarno, leitete zuvor das Filmfestival Entrevues Belfort. © Michela Di Savino

Die Französin Lili Hinstin eröffnet ihre erste Saison als künstlerische Leiterin des Filmfestivals von Locarno. Ein Gespräch über ihre Programmgestaltung, ihren Background, die Jungenund den Platz des Schweizer Kinos.

 

Bevor Sie Programmmgestalterin wurden, haben Sie das Produktionshaus Les films du Saut du Tigre gegründet. Hat es Sie nie zurück zur Produktion gezogen?

Ich habe es nie vermisst, aber natürlich kenne ich die Probleme der Produzenten gut. Es ist ein faszinierender Beruf, der allerdings äusserst unterschiedliche Fähigkeiten voraussetzt. Man kann ihn auf sehr verschiedene Art ausüben: Manche verlegen sich mehr auf die Entwicklung, andere lieben das praktische Gestalten, manche sind mehr, andere weniger nah an den Autoren dran. Es gibt keine einheitliche Vorgehensweise, man braucht aber in jedem Fall Durchhaltevermögen und Mut.

 

Mut, ist das nicht auch eine Qualität bei der Programmplanung?

Ein Programm zusammenzustellen ist viel einfacher. Es ist auch künstlerischer, deshalb habe ich damit weitergemacht. Für diesen Beruf braucht man Fantasie, die Fähigkeit, ­Brücken, Übergänge, ein Muster zu schaffen. Das gefällt mir am meisten daran.

 

Anders als in Belfort lebt Ihre Arbeit für Locarno von Weltpremieren: Sie und niemand anderes bestellt das Feld. Ist das eine grosse Bürde?

Im Gegenteil, es ist das grösste Vergnügen. Ein Werk in Empfang nehmen – natürlich zusammen mit dem Auswahlkomitee –, seine Bedeutung für die Gegenwart zu erfassen und es der Welt vorzustellen, das ist mein grösster Ehrgeiz, mein grösster Stolz. Die Startrampe für einen Film zu sein, der aus dem Nichts kommt, noch ohne Agent oder Produzentin ist, ist eine der interessantesten Utopien meiner Arbeit. Locarno ist ein verschwende­risch ausgestatteter Ort, man hat die Qual der Wahl. Ich hoffe, ich werde erfolgreich vermitteln können, dass eine sehr präzise und trotzdem eklektizistische Handschrift bei der Auswahl möglich ist.

 

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch in Locarno?

Das war während meines ersten Jahrs in Belfort, als Carlo Chatrian gerade neu in Locarno war. Meine liebste Erinnerung ist es, damals Nicholas Elliott getroffen zu haben (Anm. d. Red.: Elliott war damals Amerika­korrespondent der Cahiers du Cinéma). Seine Art, über Filme zu sprechen, gefiel mir sehr, ich habe ihn nach Belfort ans Entrevues-­Festival eingeladen, wo wir unseren cinéphilen Austausch fortsetzen. Er arbeitet heute mit uns in Locarno.

 

Genau. Können Sie uns mehr über Ihr Auswahlkomitee erzählen?

Carlo Chatrian hat sein gesamtes Team nach Berlin mitgenommen, dadurch hatte ich die Chance, das Komitee zu erneuern, ohne die Legitimität der bisherigen Programmgestalter in Zweifel zu ziehen. Ich hatte ein paritätisches und junges Team unterschiedlicher Ausrichtung vor Augen. Das jetzige Gesamtbild ist ganz aufs Zusammenspiel ausgerichtet.

 

Mit dem Base Camp und dem U30-­Programm legen Sie einen besonderen Akzent auf die Jugend. Was ist der Plan dabei?

Ich setze meine Hoffnungen in eine Generation, die zugleich aus Zuschauern und jungen Professionellen, aus Kritikern, Cineasten und Leuten aus der Industrie besteht, sowie darauf, dass sie mit dem Festival wächst. Ich habe in Belfort in einem Gremium von Leuten um die 25 gearbeitet, sie verfügen über eine Energie, einen Blick, einen Weltbezug, der sich von meinem unterscheidet. Sie haben ein hohes politisches Verantwortungsbewusstsein, eine absolut faszinierende Generation. Die Idee zum BaseCamp ist eng mit einer persönlichen Erfahrung verknüpft: Eine Freundin hatte mich nach Lussas in Frankreich mitgenommen, zum Dokumentarfilmfestival, ich war damals 19. Wir schliefen in einer als Theater genutzten alten Mühle, der Besitzer war ein echter Typ und ein bisschen verrückt, eine typische Figur der Gegenkultur der Siebzigerjahre. Er hatte überall Matratzen ausgelegt, es gab eine Gemeinschaftsküche, wir sahen den ganzen Tag Filme und diskutierten darüber. Ich bin fast 15 Jahre lang jeden Sommer an den Ort zurückgekehrt. Diese Erfahrung hat einen Teil meiner Liebe zum Film geprägt. Es gibt Gemeinsamkeiten mit Locarno: die Open-air-Situation, die hochsommerliche Atmosphäre, das alles hat etwas sehr Intimes.

 

Lussas ist ein Dokumentarfilmfestival, sie haben auch für Cinéma du Réel in Paris gearbeitet. Welchen Platz wird der Dokumentarfilm in ihrer Programmplanung einnehmen?

Aufgrund seiner etwas brutalen Trennung von Dokumentarfilm und Fiktion hat sich Locarno immer stärker Richtung Spielfilm orientiert. Aber sämtliche dazwischen angesiedelten Werke – wir haben sie bei der Sichtung «in between» genannt – bilden heutzutage einen eigenen und extrem wichtigen Bereich in der Kreativität. Für diese Filme ist das ­Festival von Locarno natürlich ein vollkommen offener Spielort.

 

Wie halten Sie es mit den Stars?

Ich finde die Anwesenheit von Stars super, weil sie für das Publikum eine ideale Brücke darstellen. Aber Stars einfach nur deswegen einzuladen, interessiert mich nicht, es müssen auch interessante, mit der Identität des Festivals zu vereinbarende Filmografien dahinterstehen. Das Problem für Locarno liegt dabei nicht beim Festival selbst, sondern beim Terminkalender. Die Stars, die meistens auch ­noch Theater spielen, sind oft bei Dreharbeiten, oder in den Ferien.

 

Ist das ein Kriterium, das Sie bei der Auswahl im Hinterkopf haben, zum Beispiel um die Sponsoren zufriedenzustellen?

Ich nehme Rücksicht darauf, aber eher mit Blick auf das Publikum. In der Schweiz denken die Sponsoren zunehmend modern, sie wollen keine Stars um jeden Preis, sie ziehen es vor, sich mit Werten zu verbinden, in denen sie sich selbst wiedererkennen.

 

Sie haben einige Sektionen neu benannt, etwa die zweite Abendvorstellung auf der Piazza, die jetzt «Crazy Midnight» heisst. Warum?

Wir haben eine Vorstellung hinzugefügt, haben von fünf auf sechs erhöht, und wir haben diesen Bereich neu gestaltet. Die Überlegung dabei war, dass es interessant sein könnte, das Spätprogramm für ein jüngeres Publikum zu überarbeiten, das speziell zu dieser Vorstellung kommt. Namen zu erfinden macht einen wichtigen Teil meiner Arbeit aus. Es ist wie in der Literatur: Benennen heisst gestalten. Eine Sektion mit Filmen aus der Cinémathèque suisse zusammen mit weiteren Filmen unter «Histoire(s) du cinema» laufen zu lassen, ist zu unbestimmt. Ohne auf Knalleffekte aus zu sein, mag ich es, wenn das Ganze eine Botschaft hat. So habe ich mir gesagt, dass es interessant sein könnte, seltene oder restaurierte Filme aufzuwerten, indem sie in einer eigenen Sektion mit dem Titel «Un­known Pleasures» zusammengefasst werden. So nämlich können sie entdeckt oder wiederentdeckt werden, und die spontane Verständlichkeit fürs Publikum wie für die Programmdirektoren anderer Festivals steigt.

 

Gehört dazu auch der Gedanke, einen nationalen Wettbewerb ins Leben zu rufen, wie er in Berlin für deutsche Filme existiert?

In Berlin habe ich dem deutschen Wettbewerb nicht allzu viel Beachtung geschenkt, ich finde, es wertet einen Schweizer Film stärker auf, wenn er auf dem Festival läuft, einfach weil er gut ist. Was Kurzfilme anbelangt, haben wir den nationalen Wettbewerb beibehalten, aber aus seinem Ghetto befreit: Die Schweizer Kurzfilme werden zusammen mit allen anderen laufen. Der Preis ist dann ein Sonderpreis, aber die Präsentation erfolgt zusammen mit den internationalen Kurzfilmen. Ansonsten haben wir als Schweizer Festival natürlich ein spezielles Auge auf den Schweizer Film, den wir entsprechend in Szene setzen. Wir haben sehr, sehr gute Schweizer Filme in der Auswahl, es gilt tatsächlich, eine ganz neue Generation mit einer gewagten Formsprache zu entdecken. Die Frage ist dennoch berechtigt. Ich überlege, das Panorama Suisse für Premieren zu öffnen.

 

Kannten Sie, bevor sie nach Locarno kamen, das Schweizer Kino gut?

Trotz meines eher französischen Hintergrunds war ich natürlich mit den Grössen der Schweizer Filmgeschichte vertraut. Ich kannte Alain Tanner, Daniel Schmid, Claude Goretta, die Generation des Groupe 5 (sie hat einen Aussetzer)…  von Godard gar nicht zu reden. Dann natürlich, auf der cinephilen Seite, Freddy Buache. Ich hatte regelmässig mit der Cinémathèque suisse zu tun, weil sie über eine sehr schöne Sammlung verfügt, von der ein Teil auf Nachfrage zur Verfügung steht. Da Locarno das grösste Schweizer Festival ist, geniesst es viel Aufmerksamkeit von Seiten der Branche, was auch bedeutet, dass man es nicht allen recht machen kann. Einige schöne Schweizer Filme wurden nicht ins Programm übernommen, und die Enttäuschung ist spürbar. So etwas vermittelt sich nicht so leicht.

 

Als Frau auf verantwortlichem Posten – ­hatten Sie Vorbilder?

Ich bin Jahrgang 1977, da ist es klar, dass ich, was die Beziehung zum eigenen Körper und die Kontrolle darüber anbelangt, vom Kampf der Frauen aus der Generation meiner Mutter profitierte, sie waren dazu in der Lage, ihre einmal errungenen Freiheiten weiterzuvermitteln. Ansonsten arbeiteten sie damals, ohne selbst Vorbilder zu haben. Was mich anbelangt, habe ich den Eindruck, Teil einer Generation zu sein, die Beruf und Mutterschaft vereinbaren kann. Andere Festivalleiterinnen, mit denen ich zusammenarbeitete, hatten keine Kinder oder sie hatten den Posten erst angenommen, als ihre Kinder schon gross waren. Ich dagegen gehöre zu einer Generation, die alles will und alles kann. Machen wir uns nichts vor, es ist nicht leicht, aber es geht, und darauf bin ich sehr, sehr stolz.

 

Locarno hat letztes Jahr die Charta für Gleichstellung unterschrieben. Wie weit sind Sie mit der Umsetzung?

Die Charta schreibt Parität in Arbeits- und Organisationszusammenhängen vor. Nun sind bei Festivals ohnehin viele Frauen beschäftigt, einfach, weil es um Kultur geht, und weil die Bezahlung schlecht ist. Die wahre Frage ist also nicht, wie paritätisch sind die Teams besetzt, sondern die Führungspositionen. Wie überall haben dort Männer das Sagen, Frauen sind die Befehlsempfänger. Auf symbolischer Ebene allerdings ist eine Frau als Direktorin ein starkes Zeichen. Das ist sehr wichtig, weil es immer auch um Repräsentation geht. Als Jacques Audiard in Venedig sagte, es gäbe keine Frauen auf der Leitungsebene von Festivals, habe ich ein Wörtchen mit ihm geredet, zum einen, weil es schlichtweg nicht stimmt, und zum anderen, weil es falsche Vorstellungen zementiert. Wir werden dieses Jahr zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals eine Jury-Präsidentin haben. Ich denke, dass die Dinge sich weiter rasch verbessern werden, und es macht Spass, zur Veränderung beizutragen.

 

Gilt das auch für das Programm?

Beim Zusammenstellen eines Programms steht die Notwendigkeit von Quoten ausser Frage. Für uns war das zunächst ein Rechen­exempel. Wir hatten ein Auge darauf, wie viele Filme von Frauen eingingen und ausgewählt wurden, in dem Punkt waren wir sehr achtsam. Bleibt die Frage, welche Auswirkungen auf die Programmgestaltung zukünftiger Festivals zu erwarten ist: Ich sehne den Tag herbei, an dem die Hälfte der Filme sowieso von Frauen kommt. Momentan spiegelt unsere Auswahl den Prozentsatz an Regisseurinnen wider, etwas mehr als 30 Prozent.

 

Diversität betrifft zunächst einmal nur die Geschlechter, arbeiten Sie auch daran, das Festival weniger weiss zu machen?

Wir haben uns grosse Mühe gegeben, das afrikanische Kino und das der afrikanischen Diaspora zu sichten. Man muss sich die Mittel verschaffen, um alle Filme sehen zu können und langfristig zu denken. Zugleich haben wir in jeder Jury einen Platz für eine Person mit afrikanischen Wurzeln reserviert. Tut man all das nicht, werden die Dinge sich niemals ändern. Auf Chancengleichheit kann man schon deshalb nicht zählen, weil die nationalen Strukturen zu schwach sind. Wir haben da mit positiver Diskriminierung dagegengehalten. Die Retro­spektive «Black Light» ist auch eine Möglichkeit, die Filmgeschichte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

 

▶  Originaltext: Französisch

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