In einer Hand hält er die Weinflasche, in der
anderen die Zigarette, doch so leger die
Haltung, so schwer wiegt der Kopf. Dieser liegt
daneben auf der Parkbank, er gehört einem
zweiten Vagabunden. Eine andere Skizze zeigt
zwei ältere Damen beim Rotweintrinken, eine
dritte dieselben als Mädchen, diesmal Hand
in Hand im Wasser. Es sind fein umrissene,
leicht skurrile Figuren in warmen Farben, die
wir aus dem fünfminütigen, noch unfertigen
Zeichentrickfilm von Patricia Wenger zu sehen
bekommen. «Nacre» soll er heissen, Perlmutter
oder perlmuttfarben. Mehrfarbig schillernd
und belastbar also, das sind Eigenschaften,
die die Animatorin auch mit der Freundschaft
assoziiert, dem Thema ihres Abschlussfilms.
Seit September 2016 arbeitet sie daran,
damals entstanden die ersten Entwürfe. Im
Sommer macht Patricia Wenger den Master in
Animation, dann soll auch «Nacre» fertig sein.
Es gibt noch viel zu tun.
Entwerfen, nachzeichnen, standardisieren
Die gebürtige Baslerin, Jahrgang 1993, arbeitet mit Kollegen der Abteilung Kunst in einem grossen hellen Saal im Bau 745 der Viscosistadt. Soeben hat sie das «Animatic», eine auf dem Storyboard basierende, noch lückenhafte Demonstrationsversion des Films also, fertiggestellt. Jemand vom Koproduzenten SRF war kürzlich für die Abnahme da. Nun kann geht es zügig weitergehen.
Ihre Figuren hat Patricia Wenger auf Papier entworfen. Sie arbeitet lieber von Hand, wenn sie Figuren und Formen entwickelt. So geht es bei ihr auch schneller: Bis am Computer ein Bild fertig gezeichnet ist, hat sie auf Papier zwanzig Skizzen entworfen – und beim «Sudeln» mehr Ideen gefunden als in der digitalen Reinschrift. Durch die Möglichkeiten am Computer, die schier unendliche Auswahl an Farben etwa, droht sie sich, auch in einer Art Zwang zur Perfektion, in der Detailarbeit und im endlosen Verbessern zu verlieren. Mit Hilfe von Filzstiften hat Wenger die Farbpalette schlussendlich auf etwa zehn Farben reduziert.
Trotzdem hat sie ihre Zeichnungen für die Animation nicht etwa eingescannt, sondern am Computer nachgezeichnet. Für die Weiter entwicklung von Figuren und Szenen hat sie zudem ein paar Videos gedreht: Von Freunden auf dem Sofa zum Beispiel, um genauer zu sehen, wie jemand dasitzt, der nichts zu tun hat.
Momentan zeichnet Wenger an den
Schlüsselbildern oder «Keyframes», Einzel
bildern also, die einen Bewegungsablauf vor
geben und die später von ihren drei Mitarbeitern
mit Zwischenbildern («Inbetweens») ergänzt werden. Ebenfalls als Vorlage für die Mitarbeiter
dienen die «Model Sheets», die von Figuren
hergestellt werden, um die Darstellung von
Gesichtern und Posen samt einer präzisen
Auflistung von Farben und Zeichenutensilien
zu standardisieren. Dass der Arbeitsaufwand
so gross ist, liegt auch an den vielen Figuren,
bei «Nacre» sind es zwölf. Die Musik wird von
Joachim Flüeler, einem MasterStudenten
der ZHdK beigesteuert, mit dem Wenger seit
Oktober zusammenarbeitet.
Vor dem Sprung in die Arbeitswelt
In Luzern gibt es relativ wenig Master Studenten in Animation; in diesem Semester sind es vier. Weshalb wollte Patricia Wenger nach dem BachelorAbschluss noch weiter studieren? Sie brauchte noch mehr Zeit, sagt sie, und wollte zudem selbständig arbeiten, selbständiger jedenfalls als im Bachelor Studium, wo die Studierenden vor allem in Gruppe arbeiten und ein streng getaktetes Unterrichtsprogramm absolvieren. Der Master bereitet auch gut auf die Arbeitswelt vor, da man für den Abschlussfilm (im Unterschied zum BachelorStudium) ja Koproduzenten suchen muss und mit Hilfe einer Produktionsfirma die ganze Finanzierung durchspielt. Für «Nacre» konnte Wenger das YK Animation Studio in Bern gewinnen, Produzent Ramon Schoch also und drei weitere Animatoren/Produzenten, die alle einst selber an der HSLU studiert haben. Nun ist «Nacre», mit Fördergeldern von SRF, vom BAK und aus Basel finanziert. Weiter mag sie noch nicht denken, es gilt nochmals abzutauchen. Die Parallelwelt wartet.