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Achtundsechzig fand nicht statt

Kathrin Halter
16. November 2018

«Haarkünstler von morgen»: Lehrlinge und Lehrtöchter an der Lehrschau der Coiffeure in Luzern. SFW vom 26.11. 1965

Von der Schweizer Filmwochenschau (1940-75) werden jetzt die Sechzigerjahre online veröffentlicht. Die Wochenschau wollte sich damals von der Propaganda einer Sonntagsschweiz lösen. Es wurde ihr nicht leicht gemacht.

Die internationale Hundeausstellung in Luzern – Eine neue Kunstsammlung fürs ­Berner Kunstmuseum – Autofahrten im Oldtimer– Eine Leistungsschau der Coiffeure in Luzern – Prinz Philipp besucht den WWF in Morges – Die Basler Fasnacht. Und immer wieder: Velo-, Pferde- oder Autorennen.

Die Auswahl von Beiträgen aus den Sechzigerjahren zeigt es: Die Schweizer Filmwochenschau (SFW) bietet vor allem Vermischt-Meldungen, Wissenswertes oder Kurioses aus Gesellschaft, Alltag und Freizeitvergnügen der Schweiz, manchmal auch aus dem Ausland. Tagesaktuelle Beiträge über Politik und andere Konflikte, wie wir sie aus der heutigen Tagesschau kennen, bleiben selten. Soft News, die leichteren Themen also, dominieren.

 

Auftrag «Geistige Landesverteidigung»

Das war in den Vierzigerjahren nicht viel anders, nur war der Zweck der Filmwochenschau damals noch unbestritten: «Geistige Landesverteidigung» lautete der offizielle bundesrätliche Auftrag bei der Lancierung der SFW am 1. August 1940.

Mit Landigeist und filmischer Vaterlandsbeschwörung sollte das obligatorische Vorprogramm in allen Schweizer Kinosälen ein Gegengewicht schaffen zur deutschen Wochenschau, jener nationalsozialistischen Propaganda, die sich selbst während der Kriegszeit in vielen unserer Kinos ausbreiten durfte. Wenigstens waren, schon seit den 20er-Jahren, auch Wochenschauen aus Frankreich oder England zu sehen, während dem Krieg konnten diese aber teils nicht mehr geliefert werden.  

Wöchentlich wurde von der SFW eine Ausgabe in Deutsch, Französisch und Italienisch produziert, dann wurden die Kopien, etwa sechs Minuten Film mit 5-8 Beiträgen, bis zu drei Monate lang durchs Land geschickt, von Kino zu Kino. Erster Chefredaktor war Paul Alexis Ladame, am meisten geprägt hat die SFW jedoch Hans Laemmel, Direktor von 1944 bis 1961, dessen unverkennbare, sonore Ostschweizer Stimme für Deutschschweizer weit über das Ende des Weltkriegs hinaus als Ausdruck der Geistigen Landesverteidigung in Erinnerung blieb. 

Erst 1975 ging die SFW ein – nach Jahren der Legitimationskrise, konkurrenziert vom Fernsehen und für viele bedeutungslos geworden. Schon seit Januar 1946 war die Ausstrahlung nicht mehr obligatorisch; zuletzt hatten nur noch wenige Kinos das Programm abonniert.

 

Militär und LSD, Verdrängung und Wandel

Nun werden (nach den Fünfzigerjahren) die Beiträge aus den Sechzigerjahren online zugänglich gemacht, aus einem Bestand von insgesamt rund 6'600 Themenbeiträgen, 1'650 Ausgaben und 280'000 Meter Film (siehe BOX).Als historische Quelle und dank des reichen Bildmaterials bleibt die SFW nicht zuletzt für Filmschaffende eine Fundgrube. Das war sie schon länger. Aber erst heute können wir uns glücklich schätzen, diesen zeitgeistigen Schatz im Internet bergen zu können. Welches Bild aber vermitteln die Beiträge aus diesem Jahrzehnt von der SFW – und welches von der Schweiz?

 Zuerst fallen die Kommentare auf, die – nicht viel anders als in den Fünfzigerjahren – oft behäbig-didaktisch wirken. Auch der betont optimistische Grundton hat sich im Aufbruchsjahrzehnt kaum verändert. Die Ironie wiederum, die so viele Beiträge bestimmt, klingt oft aufgesetzt – und so zeitbedingt wie im Beitrag von 1968 über das zentralschweizerische Lehrlingsfrisieren in Luzern («Frauenhände im Dienst männlicher Schönheit ­– darüber lächelt nur, wer nicht selber im Fauteuil sitzt. Die Rolle des Paschas wird von den Herren der Schöpfung bekanntlich mit Vorliebe gespielt.») 

Häufig bleibt die Themenwahl apolitisch, auch wenn es immer wieder Beiträge zum Zeitgeschehen gibt, zum Beispiel über tschechische Flüchtlinge in der Schweiz zur Zeit des Prager Frühlings. Wer hingegen erwartet, dass sich der gesellschaftliche Umbruch von 68 in der SFW spiegelt, wird enttäuscht: Die Studentenunruhen im In- und Ausland kommen, tatsächlich, in keinem einzigen Beitrag vor. Auch die Einführung des Frauenstimmrechts drei Jahre später war für die Wochenschau, zumindest unmittelbar nach der Abstimmung, kein Thema. So gesehen wirkt die SFW wie eine Bastion der Verdrängung – eine Institution, die ein «idealisiertes Bild des Landes entwarf, das sämtliche Konflikte, Prozesse und Probleme ausblendete», wie Rebekka Fränkel in einer Lizentiatsarbeit1 schreibt. Das war schon in den Vierzigerjahren so, wo im Zweifelsfalle dem unverbindlicheren Sujet der Vortritt gelassen wurde, wie es Filmhistoriker Felix Aeppli auf den Punkt bringt: «Tessiner Handwerk, Bischofszeller Mosternte oder kantonale Turntage anstelle von Flüchtlingselend, sozialen Spannungen oder Fluchtgeldern.»2 Allerdings macht paradoxerweise gerade all dies – die Themenwahl, der Stil, der Tonfall – die SFW so aufschlussreich, um sich ein Bild der damaligen Schweiz zu verschaffen. 

Und es gibt auch Beiträge aus den Sechzigern, die gesellschaftlichen Wandel reflektieren. Zum Beispiel das neue Umweltbewusstsein: Ein Kurzfilm über die Fachmesse Kehricht Basel etwa zeigt einen Ausschnitt aus einem verspielt witzigen Werbefilm gegen die Abfallflut, in dem ein Paar, gefilmt im Zeitraffer, wortwörtlich im Müll versinkt.

Einen sanften Wandel vernimmt man auch in der Musik: Vermehrt werden Beiträge mit Jazz unterlegt, nicht nur mit dem bisher üblichen, eher pompös angerichteten ­klassisch-romantischen Orchester- und Militärmusikstil. Pop bleibt eine Ausnahme, wie im Beitrag über einen Zürcher «Posterladen» mit Impressionen von einer Tanzparty (und einer ironischen Anspielung auf LSD).


 Eindrücke einer sonntäglichen Schweiz

 Speziell auf die SFW der Sechzigerjahre fokussiert hat der Historiker Severin Rüegg in seinem Aufsatz «Die Schweizer Filmwochenschau zwischen Aufbruch und Ende» (erschienen bei Chronos im Sammelband «Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern»).

Rüegg beschreibt das Jahrzehnt als eine Zeit der Krise, wirtschaftlich gesehen wie in ihrem Selbstverständnis. Denn während das Fernsehen fortlaufend an Bedeutung gewann und sich der Kinofilm unter dem Einfluss der Nouvelle vague europaweit radikal erneuerte, wirkte die SFW völlig veraltet.

Mögliche Formen einer Erneuerung wurden schon seit Ende der Fünfzigerjahre diskutiert – und zwar nicht nur innerhalb der Redaktion, sondern 1961 auch im Bundesrat und in parlamentarischen Kommissionen von National- und Ständerat. Anlass war eine Debatte über eine Verlängerung der Bundessubventionen an die SFW (als Stiftung unterstand die SFW dem Bund, von dem sie zu 60 Prozent finanziert wurde). Kritik kam aber auch von Kinobetreibern, die berichteten, das Publikum störe sich am schulmeisterlichen Ton der Filmwochenschau, an ihrer biederen Gestaltung und am hohen Anteil kultureller Themen. In der Folge verzichtete Mitte der 1960er über ein Fünftel aller Schweizer Kinos darauf, die Filmbeiträge vorzuführen, obwohl sie diese bezahlten.

1967 verschrieb sich die Redaktion eine Modernisierung: «Inhaltlich muss der Eindruck einer sonntäglichen Schweiz, in der alles zum besten bestellt ist, vermieden werden», liest man da. Vereinzelt beteiligten sich auch Jungfilmer – etwa aus den Filmarbeitskursen (1967-1969) an der Zürcher Kunstgewerbeschule – hinter der Kamera. «Doch das Verhältnis blieb ambivalent», schreibt Rüegg. «Neben den sich bietenden (Selbst-)Darstellungsmöglichkeiten stand die SFW bei der jüngeren Filmer- und Fotografen-Generation auch für ein Kino, das man hinter sich lassen wollte.»

Das änderte sich in den 1970er-Jahren, als ein neuer Ton aufkam, das Format zunehmend frecher wurde und sich (doch noch) zu einem Spielfeld für Jungfilmer wie Rolf Lyssy entwickelte. Nun gab es formale Experimente mit Zeitraffer und Zeitlupen oder Collagen, auch der Kommentar wurde freier. Statt einer Aneinanderreihung von «faits divers» glich die SFW nun mehr einem Magazin mit thematischem Schwerpunkt. Auch politisch änderte sich der Tonfall, es gab auch kritische Stellungnahmen wie im Beitrag vom 23. Juni 1972 über den Besuch des Schahs in Genf, wo der Einsatz der Polizei scharf kritisiert wurde (worauf die NZZ «Linksextremismus» argwöhnte).

Doch es half nichts mehr. Durch eine Änderung des Filmgesetzes verfügte der Bundesrat die Einstellung der SFW. Als amtliche Handlung, wie schon bei ihrer Geburt.  


▶  Originaltext: Deutsch


memobase.ch

Die Veröffentlichung der Schweizer Filmwochenschau im Internet ist ein Gemeinschafts­projekt der Cinémathèque suisse, des Schweizerischen Bundesarchivs und von ­Memoriav. Die Onlineveröffentlichung begann Mitte 2016, seit letztem Jahr sind alle restaurierten Ausgaben aus den Fünfzigerjahren veröffentlicht. Mitte November folgen nun, ebenfalls in den drei Sprachversionen Deutsch, Französisch und Italienisch, die Beiträge aus den Sechzigerjahren. Gerade einladend sehen die Plattformen memobase.ch und swiss-archives.ch nicht aus. Doch wer sich etwas Zeit nimmt, findet viele Zusatzinformationen – eine Fundgrube nicht nur für Historiker. Dafür sorgen umfassende Metadaten zu den Filmbeiträgen, die in Volltext­suche rechierbar sind: Zum Beispiel Schlagworte, kurze Inhaltsangaben und Begleittexte, die gesprochenen Kommentare also auf Deutsch, Französisch und Italienisch (inklusive PDF des Originaldokuments). Ab nächstem Jahr werde es sicher noch Vermittlungsangebote für ein grösseres Publikum geben, versichert Projektleiter Felix Rauh. Dann nämlich wird das Projekt mit der Veröffent­lichung der SFW aus den Siebziger- und den Vierzigerjahren abgeschlossen. Für diese Etappierung hat man sich laut Rauh deshalb entschieden, weil aus den Vierzigerjahren viele vor allem französisch- und italienischsprachige Ausgaben fehlen. Sie waren aus Nitratmaterial, das aus Sicherheitsgründen vernichtet wurde. Nun werden die (noch vorhandenen) Ausgaben untertitelt – eine sehr aufwändige Arbeit. In den allermeisten Fällen haben sich die Beiträge nämlich nur durch die Tonspur unterschieden.

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