MENU Schliessen

Wenn Zuschauer Filme beeinflussen

Kathrin Halter
27. September 2018

Max Hubacher spielt im Erstling von Hannes Baumgartner einen angehenden Serientäter.

In einem Testscreening wurde «Der Läufer» knapp 300 Zuschauern vorgeführt. Danach wurde das Drama entscheidend verändert. Die Methode ist erprobt und erfolgreich, wird bei uns aber kaum angewendet.


Es ist das aufwendigste Testscreening, das in der Schweiz je durchgeführt wurde. Und es hat Spuren hinterlassen: Der Unterschied zwischen der Testversion des «Läufers» und dem fertigen Drama, das nun ins Kino kommt, ist beträchtlich; ein eigener Testdurchlauf samt Vergleich der beiden Versionen zeigt es anschaulich. Für die Auftraggeber des Testscreenings (TS), die Filmcoopi und die Produktionsfirma Con­trast Film, hat sich der Aufwand auch wegen der Erfahrung gelohnt. Selbst dann also, wenn der «Läufer» an den Festivals (San Sebastian und ZFF) und an der Kinokasse jetzt nicht besonders erfolgreich wäre.

Durchgeführt und ausgewertet wurde das TS von zwei Sozialwissenschaftlern der neuen Berner Firma Plotpoint. Diese hat mit Social Media, Newsletter, Kinowerbung und vor allem einer grossen Strassenrekrutierung 358 Testviewer eingeladen; gezielt wurde nach einem sogenannt «Arthouse-affinen» Kinopublikum gesucht. Teilgenommen haben schliesslich 160 Frauen und 110 Männer (hauptsächlich) zwischen 25 und 49 Jahren, die Vorführung fand im März 2017 im CineClub in Bern statt. Gleich im Anschluss daran füllten die Teilnehmer einen Bogen mit rund 50 Fragen aus; diese sind teils offen formuliert, kommen teils als Multiple-Choice-Auswahl daher. Neben Fragen zur Filmbewertung und den Gründen für eine (Nicht-)Weiterempfehlung gibt es solche zur Verständlichkeit der Handlung oder der Hauptfigur sowie Fragen, die für die Auswertung wichtig sind (Kenntnis des wahren Falls, Bekanntheit des Hauptdarstellers). Zwei Wochen später lag die Auswertung vor, ein rund 50 Seiten langer Bericht mit vielen Tabellen, der sich leicht und gut nachvollziehbar liest.

Änderungsvorschläge an die Adresse von Schnitt und Regie findet man im Bericht keine. Schlüsse müssen die Zuständigen selber ziehen – und so geschah es auch, nach längeren Diskussionen zwischen Regisseur Hannes Baumgartner, Cutter Christof Schertenleib und den beiden Produzenten Stefan Eichenberger und Ivan Madeo.

Wie aber kam überhaupt die Idee auf, ein Testscreening durchzuführen? Und wie hat es sich im «Läufer» konkret ausgewirkt?


Die Länge missfiel

Das fiktive Drama um den Berner Lang­streckenläufer Jonas Widmer, der zum Mörder wird, orientiert sich lose am historischen Fall von Mischa Ebner, der 2002 eine junge Frau ermordete und sich später im Gefängnis das Leben nahm. Erzählt wird aus der Perspektive des Täters (Max Hubacher), eines jungen Kochs und angehenden Profisportlers, der von Alpträumen um seinen verstorbenen Bruder verfolgt wird, sich zusehends isoliert und damit anfängt, junge Frauen zu bestehlen – was auch seiner Freundin irgendwann auffällt.

Die Testversion, eine Rohschnittfassung, dauerte 1 Stunde 50 Minuten. 52 Prozent der Zuschauer gefiel der Film gut oder sehr gut, was nach den Erfahrungswerten der Filmcoopi, die an vielen TS in Deutschland teilgenommen hat, ein relativ schlechtes Resultat darstellt.

Am häufigsten als Grund für eine Weiterempfehlung genannt wurde der lokale Bezug zu Bern, zudem die «gute Darstellung der Täter-Psychologie» (das Psychodrama). Auch «die Schauspieler allgemein» und «die schauspielerischen Leistung von Max Hubacher» gefielen gut.

Mit Abstand am stärksten, nämlich von über 47 Prozent der Zuschauer kritisiert wurden die Längen des Films. (Interessanterweise haben sich daran weit häufiger Frauen als Männer gestört). Auch fehlende Spannung wurde moniert; für einige Zuschauer blieb die Motivation der Hauptfigur zudem unklar oder aber man vermisste Hintergrundinformationen zu seiner familiären Situation.


Zurück in den Schnittraum

Für Filmemacher und Produzenten war die Schlussfolgerung aus dem Bericht klar: Nun musste radikal gekürzt werden – eine Meinung, die die Produzenten schon vor dem Screening vertraten. Um ganze zwanzig Minuten wurde die Testversion gekürzt. Das merkt man unter anderem daran, dass der erste Diebstahl bereits nach einer Viertelstunde (in der Testversion nach 25 Minuten) geschieht – und Jonas für die Zuschauer damit viel früher in ein Zwielicht gerät. Das hilft auch der Spannung des Films. Auf das Konto der Verständlichkeit und zugleich einer Täter-Motivation geht ein neuer Anfang, der mittels einer Texttafel und einer Rückblende die Beziehung von Jonas zu seinem Bruder verdeutlicht, gleichzeitig aber auch, vielleicht etwas vorschnell, auf eine psychologische Fährte lockt. Umgekehrt wurde am Schluss eine erklärende Texttafel über die weitere Entwicklung der Hauptfigur weggelassen, wodurch der Film ein offeneres Ende erhält und die Zuschauer gewissermassen beunruhigter zurücklässt als in der ersten Version (die alles auflöste). Nachdrehs wurden keine notwendig; die wenigen Szenen, die in der Endfassung noch hinzukamen, waren im Schnittmaterial schon vorhanden.

Wieso machte man gerade beim «Läufer» ein TS? Man sei beim Schnitt etwas steckengeblieben, sagt Produzent Stefan Eichenberger, sei sich nicht nur bei der Filmlänge uneinig gewesen. Es fehlte also, wie so oft in dieser Arbeitsphase, ein Blick von aussen, jene Aussenperspektive, die den Tunnelblick im Schnittraum wieder weitet. Doch anders als bei jenen Screenings mit befreundeten Kollegen, wie sie in der Schweiz üblich sind, erfährt man bei einem professionell durchgeführten TS viel über das Zielpublikum: «Statt persönlicher Annahmen und Schätzungen gibt es fundierte Fakten. Und dank sozialwissenschaftlich abgestützter Aussagen kann man danach schlicht besser diskutieren», sagt Stefan Eichenberger.

Dabei war er sich auch mit Wolfgang ­Blösche von der Filmcoopi einig, der das TS angeregt hatte und nun froh ist, mit Plotpoint neu auch einen Anbieter in der Schweiz vorzufinden; die Filmcoopi wünschte sich, dass TS auch hierzulande üblich werden. Die Kosten von rund 18'000 Franken hat man sich je zur Hälfte geteilt. Für Verleiher sind TS nützlich, um möglichst viel über ihr Zielpublikum zu erfahren und ein spezifisches Marketingkonzept erstellen zu können. Beim «Läufer» entscheidend waren Fragen zur Bekanntheit von Hauptdarsteller und Stoff sowie zum Bezug zu Bern, der wichtigesten Auswertungsregion des Films.


Konsequenzen für Trailer und Plakat

Deshalb beginnt der Trailer nun mit dem Grand Prix von Bern, den dort jede(r) kennt; zudem wurde der Trailer stärker auf Spannungs­elemente hin angelegt. Auch das Konzept fürs Plakat wurde angepasst: Die Filmcoopi ging nämlich von der irrigen Meinung aus, Hauptdarsteller Max Hubacher sei so bekannt, dass sein Gesicht, ein Verkaufs­argument, gut erkennbar sein müsse. Die Auswertung relativierte diese Einschätzung klar, was mehr Freiheit in der Gestaltung des Plakats erlaubte: Ein mehr konzeptuelles als klassisches Sujet mit einem leicht unheimlichen Doppelbild des Schauspielers, der sich wie eine Kippfigur im Wasser spiegelt, als Hubacher jedoch nur schwer erkennbar ist.

Und was sagt eigentlich der Regisseur dazu? Schliesslich wird die Position des Autorenfilmers wie des Editors durch den Einfluss der Testzuschauer relativiert. Oder gar in Frage gestellt? Hannes Baumgartner sieht das entspannt: Solange man die Freiheit behalte, mit den Resultaten eines TS so umzugehen, wie man es selber für richtig halte, habe er kein Problem damit, im Gegenteil. Die Auseinandersetzung im Team war für ihn wichtig; unerwünschte Kompromisse gab es keine. Und ja, die Verdichtung, die das TS nahelegte, habe dem Film gut getan.


▶ Originaltext: Deutsch


«Da kann man nur profitieren»

Kathrin Halter
27 September 2018

Gemischte Paare

Pascaline Sordet
27 September 2018

Sensorium für falsche Töne

Kathrin Halter
27 September 2018

Innenwelten

Pascaline Sordet
27 September 2018

Die digitalen Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft

Ulrich Fischer, Experte für interaktive Medien, Gründer von Memoways
27 September 2018

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife