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Geduld, Genauigkeit und Empathie


16. Juni 2017

Der Kulturjournalist Martin Walder hat eine Monografie über Claude Goretta geschrieben. Damit ermöglicht er die Neubesichtigung eines Werks, das bis ins junge Schweizer Filmschaffen hinein Spuren hinterlässt. 

Von Andreas Scheiner

Claude Goretta war die Feuerprobe. Als Martin Walder 1973 seinen Einstand bei der NZZ gab, war «L’invitation» der erste Film, den der junge Kritiker ausführlich besprechen durfte. Ein «schönes und geglücktes Werk», urteilte Walder damals über den zweiten Spielfilm des Westschweizers, wobei er besonders die «beiläufig angebrachten Beobachtungen der Kamera, die zu Gorettas Kunst der ‹banalité tranquille› gehören», hervorhob. Vor sechs Jahren erhielt Goretta in Locarno dann den Pardo alla carriera, Walder erlebte ein Wiedersehen mit «L’invitation». Und der gestandene Kulturjournalist fand den Film «so frisch und berührend wie damals.» Dessen «Tschechowscher Blick auf die Menschen» habe ihn beim ersten Sehen sehr angesprochen, und tue es noch immer, so Walder zu Cinébulletin. Das Interesse war neu geweckt, und weil es über den einflussreichen, aber diskreten Goretta, im Unterschied zu seinen Genfer Gefährten Alain Tanner und Michel Soutter, kaum Literatur gab, beschloss Martin Walder, sich seiner anzunehmen. 
 

Geplagt vom Gefühl, privilegiert zu sein 

Mit «Claude Goretta – der empathische Blick» hat Walder jetzt eine 240 Seiten starke Monografie vorgelegt über den, wie er schreibt, «vielleicht vielseitigsten Schweizer Filmemacher seiner Zeit.» Das Buch begnügt sich nicht damit, biografische und Karriere-Eckdaten abzuhaken: Walder will Gorettas Beobachtungsgabe nachspüren, die er auf ein Drängen «zur realen Begegnung mit andern» zurückführt. Ohne aufdringlich zu psychologisieren, verlinkt Walder diesen «Grund­impuls» mit dem Elternhaus, eine «schweizerische Nachkriegsfamilie, behütet vor all dem Schrecken, der um sie herum geherrscht hatte.» Die Eltern hätten wenig Neugier für das Leben der Anderen verraten, sie seien vor allem bestrebt gewesen, den erreichten bürgerlichen Status zu konsolidieren. Den Sohn aber plagte das Gefühl, privilegiert zu sein als Filmemacher, und daraus habe er die Energie geschöpft, sich dem Leben zu stellen, «wegzugehen, zu reisen auf der Suche nach der Begegnung mit den Anderen und um in gewisser Weise immer mit ihnen zu sein.»

Bei einem halben Dutzend Interviews, die Walder in der Dachwohnung des 87-jährigen, gesundheitlich angeschlagenen Goretta an der Arve in Genf geführt hat, will der Filmemacher kaum über Privates sprechen – ausgenommen sein Herkommen. Die Mutter war als Kind aus Pforzheim via Le Locle im Neuenburger Jura nach Genf gekommen; der Vater entstammte einer Familie von Immigranten aus dem Piemont und brachte es als Bankprokurist zu einer bürgerlichen Existenz. «Der Reflex auf das Immigrantenschicksal», schreibt Walder, «auf das Fremde, das Fremde auch in uns und unter uns, ist beim Filmemacher so lebendig, dass er es ins Allgemeine erhöht: ‹Irgendwo ist immer ein Emigrant in meinen Filmen. Jemand etwas am Rande der Gesellschaft.›»
 

Carouge, Genf, London

Goretta, 1929 in Carouge geboren und im Genfer Quartier Saint-Jean über den Falaises des rechten Rhoneufers aufgewachsen, wollte von Kindesbeinen an Filmemacher werden: Chaplins «Shoulder Arms» und «Nanook of the North», Robert Flahertys wegweisender Dokumentarfilm, brachten Klein Claude auf den Geschmack. An der Uni in Genf gründete Goretta einen Filmclub, Alain Tanner stiess dazu. Dann fanden sich die zwei in London wieder, wo das Free Cinema dem ungeschminkten Leben auf der Spur war, und wo das Goretta-Tanner-Gespann für keine 3000 Franken eine nächtliche Impression des Piccadilly Circus drehte mit den Passanten, die sich «im Lichtspiel der Neonreklamen von ‹delicious› Coca-Cola & Co., der Schaufensterauslagen und Kinoaffichen» ein Stelldichein geben. Beiläufig, in einer Kunst der «banalité tranquille», möchte man sagen, fängt die Kamera die Flaneure ein, andere stehen Schlange vor den Theatern und Kinos: «‹War and Peace› mit Audrey Hepburn und Henry Fonda ist angesagt. Nuditäten locken. Aus dem Kinosaal flüstern Chris und Maria oder ballert MG-Feuer der später zugemischten Tonspur ins Filmbild von draussen auf dem Platz. Bis ins Morgengrauen fängt man den Reigen des Vergnügens und der Liebe ein, der romantischen und der käuflichen.»

«Nice Time» heisst der poetische Kurzfilm, in dem Martin Walder nichts weniger als eine «Keimzelle eines neuen Schweizer Films» zu erkennen glaubt. Von diesem vielbeachteten Debüt schlägt der Autor den Bogen zu den Dokumentarfeatures, die Claude Goretta fürs Fernsehen drehte: Goretta gehörte zum redaktionellen Kernteam von «Continents sans visa», dem feuilletonistischen Flaggschiff der TSR. Und der Reporter Goretta bewies sich als thematischer Allrounder: In «Pour vivre ici» porträtierte er spanische Saisonniers (und plädierte für  Familiennachzug). Im nächsten Beitrag, «Un roi triste», rückte er dem 23-jährigen Johnny Hallyday nahe. «Nicht beweishungrig im Klatschpressestil, eher als Hypothese» habe Goretta den «traurigen König» gesucht hinter dem «von umwerfend frechem Charme» strotzenden Hallyday-Lächeln.
 

Schweizer Nouvelle Vague

Schliesslich Martin Walders Fokus: Das Aufblühen eines neuen schweizerischen Spielfilms in den Siebzigerjahren mit Goretta, der nicht zuletzt Isabelle Huppert in «La Dentellière» (1977) zum Durchbruch verhalf. Walder pflügt geflissentlich durch diese Geschichte der Groupe 5 um Goretta und Tanner, die der Schweiz ihre kleine Nouvelle Vague bescherte. Anekdoten sorgen dafür, dass die Ausführungen nicht trocken werden. Dass Goretta die junge Isabelle Huppert nach Genf habe kommen lassen, erfahren wir etwa, wo sie bei ihm wohnte und er «sie beobachten konnte, ihre Rhythmen, ihre Art zu sprechen, zu essen, all dies.» Der Regisseur war zunächst unentschlossen, «La Dentellière» zu verfilmen. O-Ton Goretta: «Eine derart verschlossene Figur, die sich nicht mitteilt, flösste mir Angst ein. Isabelle Huppert (...) war scheu und auf natürliche Weise still. Das hatte ich, der immer beobachtet, wahrgenommen.» Und ja, Goretta hatte ein Händchen im Entdecken von Stars: Auch Gérard Depardieu («Pas si méchant que ça») oder Nathalie Baye («La provinciale») kann er für sich reklamieren.

Neben dem Poeten Michel Soutter und dem animal politique Tanner erklärt Walder Goretta zum Ethnografen und Psychologen, der «dem leisen Schwindel, den Sehnsüchten und Beschädigungen seiner Protagonisten in ihrer sozialen Prägung nachspürt.» Von den «Eruptionen im Alltag der sogenannten kleinen Leute, unter dem die Verrücktheit, die folie lauert», davon würde Goretta erzählen. Er sei zwar nie «schule-­bildend» gewesen, wie Walder einräumt: «Anders als Tanner», so der Autor zu Cinébulletin, «war Goretta schon damals weniger im (politischen) Diskurs-Mainstream.» Doch ist Martin Walder überzeugt, dass Claude Goretta bis ins gegenwärtige junge Schweizer Filmschaffen seine Spuren hinterlassen habe: «Wo Geduld, Genauigkeit und eben die Empathie meines Buchtitels sich paaren, wird man Verwandtschaft bis heute feststellen können.» Von Goretta gäbe es jedenfalls zu lernen, das macht Martin Walders schön geschriebene, von Filmwissen gesättigte Monografie klar.

Martin Walder: «Claude Goretta. Der empathische Blick». Edition Filmbulletin, Schüren-Verlag, 2017  

Bildlegende: Rollenarbeit für «Pas si méchant que ça» (1974): Claude Goretta (Bildmitte), Marlène Jobert und Gérard Depardieu. Bild: Monique Jacquot.

▶  Originaltext: Deutsch

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