MENU Schliessen

Für Yves Yersin

Jean-Stéphane Bron
21. Dezember 2018

Yves Yersin bei den Dreharbeiten zu «Les petites fugues». © DR

Yves Yersin, Regisseur, Mitglied des Groupe 5 und Gründer des DAVI ist am 15. November im Alter von 76 Jahren gestorben. Eine persönliche Hommage seines früheren Schülers.

Yves Yersin begleitete mich auf meinen ersten Schritten in der Filmwelt – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich trat damals zur Aufnahmeprüfung des DAVI an, der audiovisuellen Abteilung der ECAL, die Yves Yersin kurz zuvor gegründet hatte. Die Prüfung bestand darin, innerhalb von 24 Stunden aus Fotos einen Kurzfilm zusammenzustellen und zu vertonen. Da wir die Technik noch nicht beherrschten, stand jedem Kandidaten ein Cutter zur Seite. Mein Cutter war Yves. Es war meine erste Begegnung mit ihm, und meine erste Freinacht, die ich mit dem Schneiden eines Films zubrachte – die erste von vielen. Bei fortschreitender Nacht überarbeiteten wir unermüdlich immer die gleichen Stellen und spielten gewisse Tonpassagen dutzende Male durch, um die richtige Musik zu finden. Ich hatte panische Angst davor, nicht rechtzeitig fertigzuwerden, und als ich besorgt auf meine Uhr schaute, sagte Yves zu mir: «Wenn du das Gewicht eines ganzen Films auf deinen Schultern trägst, das Gewichts des Budgets, deiner Zweifel und deines Teams, das ungeduldig wird, ist der Druck noch viel grösser. Damit musst du leben».

Er sagte dies mit einer gewissen Leichtigkeit, wie eine unvermeidliche Tatsache: Beim Drehen eines Films geht es in erster Linie um Belastbarkeit und Durchhaltevermögen. Dieser Satz brachte zum Ausdruck, wie er den Beruf des Filmemachers sah: als eine Bürde, die man sich selbst auferlegt und unter deren Last man versuchen muss, nicht zusammenzubrechen. Wie alle wirklich guten Handwerker war Yves hartnäckig, perfektionistisch und nie zufrieden – für seinen Beruf gab er alles. Zweifellos litt er in den letzten Jahren zunehmend unter den extrem hohen Ansprüchen, die er an sich selbst stellte. 

Gefürchtet und geliebt als Lehrer

Das DAVI hat unzählige Filmemacherinnen und Filmemacher, Technikerinnen und Techniker hervorgebracht, die heute die Schweizer Kinoszene prägen, wie Christian Davi, Thomas Thümena, Karine Sudan, Frédéric Mermoud, Fulvio Bernasconi, Daniel von Aarburg, Fabrice Aragno, Benoît Rossel, Stéphane Kuthy, Marc von Sturler, Luc Peter und Matthias Bürcher. Diese Schule, die Yves Yersin gegründet hat, war vierzehn Jahre lang ein wichtiger Teil seines Lebens. Alles was er dort unternahm – ob wir zur Übung eine Milchpackung beleuchteten oder mit Tausenden von Nägeln und mehreren Tonnen Holz die Treppe von «Panzerkreuzer Potemkin» nachbauten – war von seinen hohen Anforderungen geprägt.

Er wurde von seinen Schülern gleichermassen gefürchtet und geliebt, denn er betrachtete alles mit dem gleichen scharfen und unvoreingenommenen Auge, egal ob es sich um ein Video, ein Gemälde, eine Fotografie, eine Radierung oder ein Werk von Le Corbusier handelte. Er hatte die einzigartige Gabe, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Er drückte seine Gedanken in wenigen, klaren und oft scharfen Worten aus.

Im Akt des Filmens setzte Yves eine ihm eigene Metaphysik um, die sich in seiner besonderen Beziehung zur Zeit ausdrückte: die Dauer einer Einstellung, einer Geste, der Rhythmus der Worte. Er sagte immer wieder, der Dokumentarfilm müsse sich vom Spielfilm inspirieren lassen und umgekehrt. Für ihn war es offensichtlich, dass die Grenze zwischen diesen beiden Kino-Universen mehr und mehr verschwimmen würde.

Über einen wichtigen Teil seines Schaffens wird wenig gesprochen, obwohl man dadurch seine Sichtweise erst richtig versteht. Yves hat mehrere volkskundliche Filme über Handwerksberufe gedreht, und in einem von ihnen zeigt er, wie ein Schuhmacher einen Schuh herstellt. In diesem virtuosen Film offenbart Yves auf einem Raum von knapp einem Quadratmeter sein ganzes meisterhaftes Können. Es ist nicht einfach ein gut gedrehter Film, sondern eine Lektion über Rahmung und Zeit, wo jede Cadrage vollkommen ist und wo Auslassung, Hors-Champ und der Zeitfluss innerhalb der Einstellungen perfekt orchestriert sind. Zwischen dem Anfang des Films, wo weder Schuh noch Form existiert, sondern nur ein leerer Rahmen, und dem Ende, wo der vollendete Schuh dasteht, liegt die Präzision des Handwerkers und Yves’ Genie – seine Vorstellung von Leben und Kunst: «Wir denken mit den Händen, unsere Sichtweise kreiert das Objekt». 

Schwierige Zeit nach «Les petites fugues»

Einige Zeit nachdem Yves das DAVI verlassen hatte, teilten wir während mehreren Monaten ein Büro. Wir hatten einen gemeinsamen Produzenten und Freund, Robert Boner, der an der Produktion der «Petites fugues» beteiligt gewesen war – jenem sagenhaften Film, der Yves grosse Freude, internationale Anerkennung, viele Freunde, aber auch grosses Leid gebracht hat. Ich sah seine Projekte, die nicht zustande kamen, und wie es ihm körperlich und moralisch immer mehr zusetzte, sie aufgeben zu müssen.

Um ein Drehbuch zu schreiben, musste Yves nicht nur das Papier, den Stift, den Computer und die Software sorgfältig auswählen, sondern auch den Schreibtisch selbst bauen. Er hatte die Intelligenz eines Handwerkers, der sein Werkzeug beherrschen und jedes Mal neu erfinden muss. In seinem letzten Film «Tableau noir» gab er jedem Kind in der Klasse ein Mikrofon – eine riesige technische Herausforderung – damit jedes sich ausdrücken konnte und keine Stimme unterging. So etwas würde sonst niemandem einfallen.

Yves war ganz verrückt nach der Szene in «Paris, Texas», wo Travis (Harry Dean Stanton) Jane (Nastassja Kinski) in einer Peepshow-­Kabine wiederfindet und die beiden sich, von einer Spiegelwand getrennt, lange am Telefon unterhalten, ohne einander zu sehen.

Travis: Hey.

Jane: Hey.

Travis: Can I tell you something?

Jane: Sure, anything you like.

Travis: It’s kind of long.

Jane: I got plenty of time.

Yves hatte diese Szene auf eine Kassette kopiert und hörte sie sich in Endlosschleife an, wenn er abends im Auto nach Hause fuhr. Sie machte ihn glücklich

▶  Originaltext: Französisch

Hommage Yves Yersin

«Les petites fugues»

Montag, 28. Januar, 13:00

Kino im Uferbau

Mit: Madeleine Fonjallaz, Robert Boner, Jean-Stéphane Bron u.a. 

Sieben Leben

Pascaline Sordet
21 Dezember 2018

Der Ermöglicher

Nina Scheu
16 November 2018

Innenwelten

Pascaline Sordet
27 September 2018

Der Unbequeme

Andreas Scheiner
30 Juli 2018

Die Bandenchefin

Nina Scheu
25 Juni 2018

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife