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Treffpunkt: Mathieu Gayet

Adrien Kuenzy
03. November 2023

Der neue Industrie-Verantwortliche am Geneva International Film Festival (GIFF) ist ein Spezialist in Sachen neue Medien und immersives «Storytelling». Ein Gespräch.

Wie kam es zu Ihrer Ernennung als Industrie-Verantwortlicher des GIFF und des Geneva Digital Market (GDM)?

Mein beruflicher Werdegang war entscheidend für meine Ernennung am GIFF. Nach Abschluss meines Masterstudiums in Film-, Medien- und Multimediarecht 2008 in Lyon begann ich meine Laufbahn in Paris, wo ich mich hauptsächlich auf die Filmproduktion konzentrierte. Parallel dazu wuchs mein Interesse am Internet, und ich begann, mich in Blogs und Online-Foren einzubringen. Von 2014 bis 2017 beobachtete ich den Aufschwung der virtuellen Realität und die Entstehung neuer Formate wie Webdokumentationen. Diese neuen Schaffensformen faszinierten mich aufgrund ihrer Aussagekraft und ihres interaktiven Charakters. 2017 erkannte ich den Bedarf nach einer spezifischen Informationsplattform zur Dokumentation dieser innovativen Werke. So gründete ich ein Jahr später XRMust, eine Plattform, die ausschliesslich den neuen Erzählformen gewidmet ist. Während der vergangenen zwei Jahre konnte ich mich in Genf zunehmend einbringen und Persönlichkeiten wie die Leiterin des GIFF Anaïs Emery und Laetitia Bochud von Virtual Switzerland kennenlernen. Die Arbeit am GIFF vereint sozusagen all meine vergangenen Erfahrungen und Kompetenzen. 

 

Wie beurteilen Sie als auf neue Medien spezialisierter Journalist den Einfluss der neuen Technologien auf die audiovisuelle Industrie?

Wir feiern mehr oder weniger das zehnjährige Bestehen der virtuellen Realität, obwohl sie tatsächlich schon länger existiert. Diese Technologie begann ihren Höhenflug mit der Einführung von Oculus, dem ersten Alles-in-einem-VR-Helm für das breite Publikum. Zu Beginn dachte man, die Technologie würde  den Film verdrängen oder konkurrenzieren, doch dies erwies sich als Fehlannahme. Die virtuelle Realität hat sich vielmehr parallel zu anderen künstlerischen Schaffensformen entwickelt. Sie interessiert mich, da sie ein neuartiges Medium darstellt, eine neue Schaffensplattform. Derzeit zeigt sich ihr Einfluss auf die audiovisuelle Industrie auf technologischer Ebene, insbesondere im Bereich der virtuellen Produktion. Als ich in Paris und Europa die ersten mit LED-Bildschirmen ausgestatteten Studios und die fliessende Integration zwischen Produktion und Post-Produktion entdeckte, verstand ich, dass diese Fortschritte aus der Welt der erweiterten Realität (XR) stammen. Dies hat bedeutende Auswirkungen, die wir jedoch noch nicht vollständig ausgelotet haben, da die Fachkräfte der traditionellen Industrien auch lernen müssen, mit diesen neuen Werkzeugen umzugehen. Ich denke, dass diese Umstellung relativ schnell gehen wird, zumal die Branche den digitalen Wandel bereits vollzogen hat, zum Beispiel im Bereich der Kinovorführungen.

 

Wie fördert der GDM die Zusammenarbeit zwischen schweizerischen und internationalen digitalen Kunstschaffenden?

Indem er allen Teilnehmenden die Möglichkeit bietet, sich vor Ort zu treffen. Das ist die Quintessenz des fünftägigen GDM. Um die Kunstschaffenden noch besser zu unterstützen, führen wir zwei Pitching-Sessionen durch: Die «Swiss Interactive Sessions» mit Unterstützung des Zentrums für digitale Kreation sind Schweizer Projekten gewidmet. Bereits vor dem Festival werden Video-Präsentationen zu diesen Projekten auf unserem Portal zur Verfügung gestellt. Die eingeladenen Entscheidungsträger und -trägerinnen können sich diese Pitchs anschauen und die Projektträger und -trägerinnen kennenlernen, unter denen sowohl Filmschaffende als auch Studierende sind, zum Beispiel der ECAL oder der HEAD – Genève. Die «XR Coproduction Sessions» sind international und richten sich an Schweizer und ausländische Kunstschaffende, die ihre Projekte in 15-minütigen Präsentationen persönlich vorstellen. Unter den vertretenen Ländern sind unter anderem Griechenland, Finnland, England, Frankreich, Deutschland, Dänemark, Luxemburg und die Schweiz. Durch Koproduktionen sind jedoch auch Länder wie der Iran, Australien oder Kanada beteiligt. Die 25 Projekte bilden eine schöne internationale und europäische Diversität ab, und wir haben mit grosser Freude festgestellt, dass jedes einzelne in Bezug auf «Storytelling» etwas Einzigartiges einbringt.

 

Welche Hauptthemen werden dieses Jahr am GDM behandelt?

Dieses Jahr legen wir den Schwerpunkt in unseren Konferenzen auf künstliche Intelligenz und bekennen uns offen zum Einfluss dieser Technologie auf die Kunstszene. Unsere «Happy Hours» in Zusammenarbeit mit der HEAD – Genève befassen sich mit diesen Themen und fördern ein offenes Gespräch, ohne eine bestimmte Sichtweise aufzudrängen. Wir behandeln auch Themen wie den «Female Gaze», den «weiblichen Blick», in der virtuellen Realität und die «Gamifizierung» des Films, welche die wichtigsten Entwicklungen der Kreativindustrie widerspiegeln. Zudem stehen die Streaming-Plattformen und der Einfluss der Digitaltechnologie auf die Verbreitung audiovisueller und filmischer Inhalte weiterhin im Fokus.

 

Sie sind auch Kurator von Immersity, einem dreitägigen Thinktank für die französischsprachige XR-Industrie. Welche Trends erforschen Sie hier?

Seit 2022 stellen wir einen starken Trend zur Entwicklung neuer Helme fest, die immer leistungsstärker werden und immer höhere Auflösungen bieten. Die jüngsten Ankündigungen von Meta stellen auch kompaktere und leichtere Helme für ein angenehmeres Erlebnis in Aussicht. Der Eintritt von Apple in diesen Markt letztes Jahr deutet ebenso grössere Veränderungen an und dürfte zu einer Verschiebung des Gewichts von der virtuellen Realität hin zur gemischten Realität führen. Die Möglichkeit, mit der  virtuellen Welt unserer reale Welt zu überlagern, oder Spiele wie Mario Kart auf dem Küchenboden zu spielen, verbreitet sich zunehmend. Wir beobachten eine kreative Zusammenführung von Theater, Tanz und anderen Bereichen. In der Schweiz ist etwa Gilles Jobin ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Art von künstlerischer Fusion. So entstehen vermehrt hybride Kunst-Performances, die diese neuen Technologien integrieren, wie «Lavinia» von Isis Fahmy und Benoît Renaudin, die dieses Jahr am GIFF gezeigt wird und eine performative und virtuelle Version des Romans von Ursula K. Le Guin darstellt.

 

Welchen Rat würden Sie jungenKunstschaffenden im digitalen Bereich geben, die in die audiovisuelle Branche einsteigen möchten?

Die Kunsthochschulen in der Schweiz  bieten derzeit ein faszinierendes Beispiel. In Frankreich haben wir kein vergleichbares Angebot. Es gibt Schulen für Videospiele, doch neue Wege zu beschreiten kann schwierig sein, obwohl die Situation sich rasch wandelt. Heute ist es einfacher, XR-Applikationen zu kreieren und auf unseren Smartphones zu installieren. Ich stelle auch fest, dass immer mehr Kunstschaffende mit Werkzeugen wie Unity oder Unreal arbeiten, um völlig autonom ihre eigenen Erfahrungen zu entwickeln. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz könnte diese Veränderungen noch beschleunigen. Heutzutage ist der Zugang zu diesen Werkzeugen einfacher als noch vor zehn Jahren. Für all jene, die neugierig auf Neues sind, gibt es also unzählige Möglichkeiten zu erforschen, und es braucht dazu nicht von Anfang an ein grosses Team. Zusätzliche Fachkräfte können später hinzukommen, um ein Projekt fertigzustellen, zu produzieren oder ihm den letzten Schliff zu geben. Letzten Endes denke ich, der beste Einstieg besteht darin, das zu entdecken, was bereits existiert. Es gibt Lokale wie das Dreamscape in Genf, die ihren eigenen Katalog führen. Ich kann jedem und jeder nur empfehlen, diese Gelegenheit zu nutzen, vor allem wenn die Helme bezahlbarer werden. Es ist an der Zeit, sich auszurüsten und diese neue Welt zu erkunden.

In Zahlen

1982  «Geburt in Le Mans (Frankreich), an einem frühen Dienstagmorgen. Im gleichen Jahr erscheinen «Blade Runner» (Ridley Scott), «The Thing» (John Carpenter), «E.T.» (Steven Spielberg) oder «Tron» (Steven Lisberger).»

1999  «Entdeckung von «Matrix» (Wachowskis), «Cube» (Vincenzo Natali) oder «eXistenZ» (David Cronenberg), die meine Leidenschaft für Science-Fiction-Filme definitiv festigen. Zwei Jahrzehnte später deute ich das Aufkommen der virtuellen Realität als Zeichen, dass wir in der Zukunft angekommen sind...»

2001  «Erste Online-Publikationen, erste Schritte in Foren und Blogs des grossen weiten Internets.»

2012  «Lancierung eines Web-TV zum Thema Kino, «Après la Séance», gemeinsam mit anderen französischen Journalisten und Bloggern. Im Rahmen dieses Gemeinschaftsprojekts entstehen über 150 Videos.»

2014  «Entdeckung interaktiver Projekte mitten im Transmediatrend, und wenige Monate später der virtuellen Realität, die noch in den Kinderschuhen steckt. Ein Referenzprojekt dieser Zeit – und aller Zeiten – erscheint: «Notes On Blindness – Into Darkness». 

2017  «Reise in die USA zu South by Southwest (SXSW), einer Veranstaltung rund um Musik, Film, Serien und neue Technologien. Zurück in Frankreich bin ich dreimal so motiviert, ein Medium rund um immersive Medien zu lancieren.»

2023  «Einstieg beim GIFF als Head of Industry».

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