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Hier leben, von dort erzählen

Anne-Claire Adet
22. Juli 2021

«Zahorí» von Marí Alessandrini ereignet sich in der patagonischen Steppe ihrer Kindheit.

Zwei Schweizer Koproduktionen sind im Concorso Cineasti del Presente von Locarno zu sehen: «Wet Sand» von ­Elene Naveriani und «Zahorí» von Marí Alessandrini. Beide Filmemacherinnen sind im Ausland geboren. Ein Doppelporträt.

Elene Naveriani ist Georgierin. Nach einem Kunststudium in Tiflis kam sie im Alter von 24 Jahren in die Schweiz. Marí Alessandrini stammt aus Patagonien im Süden Argentiniens, sie arbeitete als Fotografin und im Zirkus, bevor sie mit sechsundzwanzig in die Schweiz kam. Heute vertreten sie beide die Schweiz im Wettbewerb Cineasti del Presente von Locarno, der neue Filmtalente fördert. 

Nach dem vielbeachteten «I Am Truly A Drop Of Sun On Earth» von 2017 stellt Elene Naveriani ihren zweiten Spielfilm «Wet Sand» vor, der in einem abgelegenen georgischen Dorf am Schwarzen Meer spielt. Eine Liebes- und Familiengeschichte, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Filmemacher Sandro Naveriani, geschrieben hat. Der erste Spielfilm von Marí Alessandrini, «Zahori», erzählt von der Begegnung zwischen einem jungen Mädchen und einem alten Mapuche-Gaucho inmitten der Steppe Patagoniens. Eine Initiationsgeschichte zwischen Märchen und Western, in der es um kulturelle Diversität, Konfrontation und Zusammenleben geht. Der Film wurde in Locarno bereits 2020 mit dem Pardo des Schweizer Wettbewerbs The Films After Tomorrow ausgezeichnet.

 

Zurückkehren oder bleiben?

Zufälle und Begegnungen haben die beiden Frauen in die Schweiz geführt. Elene Naveriani liebt den Film seit ihrer Kindheit für seine «magischen Sprache, die alle anspricht». Sie studierte Kunst an der State Academy of Art in Tiflis. «In Georgien sah ich für mich keine Zukunft, weder auf persönlicher, noch auf beruflicher Ebene. In Tiflis habe ich Schweizer Studentinnen und Studenten kennengelernt, die mir von der HEAD erzählten. Ich bewarb mich und wurde angenommen», erklärt sie. Marí Alessandrini wollte ihrer künstlerischen Laufbahn eine neue Richtung geben und sich dem Film und Europa zuwenden: «Ich hatte anfangs nicht vor, in die Schweiz zu gehen, doch es war eine natürliche Wahl: In Patagonien leben viele Auslandschweizerinnen und -schweizer. Fondue gilt sogar als typisches Gericht von Bariloche. Unbewusst habe ich in den Seen und Bergen der Schweiz meine Heimat wiedergefunden.» Dank der Begegnung mit einer ehemaligen Studentin wählt sie die HEAD, «da die Film­abteilung Teil der Kunsthochschule ist und aufgrund ihrer künstlerischen Offenheit mit internationalen Referenten wie Miguel Gomes, Apichatpong Weerasetha­kul, Eugène Green und anderen.»

Nach dem Studium war beiden rasch klar, dass sie in der Schweiz bleiben wollten. «In Patagonien Filmemacherin zu sein, ist schwierig», so Marí Alessandrini. «In Lateinamerika konzentriert sich die Filmförderung auf die grossen Städte und bleibt oft der Bourgeoisie vorbehalten. In der Schweiz ist alles dezentraler und demokratischer.» Noch während ihres Studiums an der HEAD kann sie dank eines Preises der Cinéfondation von Cannes mit der Realisierung ihres Spielfilms beginnen. Mehrere Jahre lang drehte sie regelmässig in der Steppe Patagoniens, einer riesigen, wilden und abgelegenen Region, über 1600 Kilometer von Buenos Aires entfernt und vom argentinischen Staat vergessen. In dieser Steppe, in der auch ihre früheren Kurz-Dokumentarfilme spielen, erlebte sie im Alter von 13 Jahren (dem Alter von Mora, Protagonistin von «Zahorí») zum ersten Mal die Macht der Natur.

«Ich wollte nicht in meine Heimat zurück, denn dort hatte ich keine Zukunft. Weder als queere Person, noch als Filmemacherin», sagt auch Elene Naveriani. «Nach meinem Studienabschluss habe ich sofort meinen ersten Spielfilm gedreht, der in der Schweiz produziert wurde. Das hat mich der Schweizer Filmbranche nähergebracht und mir weitere Türen geöffnet.» Die Geschichten, die sie erzählen will, spielen jedoch in Georgien: «Seit meinem Wegzug in die Schweiz hatte ich immer Schuldgefühle, weil ich nicht mehr Teil dieses schwierigen Lebens bin, das meine Familie, meine Freunde und Kollegen in Georgien führen. Mit meinen Filmen und Geschichten konnte ich wieder an diese verpasste Vergangenheit anknüpfen. Es ist eine Art der Versöhnung, aber auch eine Form von Aktivismus. Ich habe das Privileg, hier in der Schweiz zu sein. Das gibt mir die Möglichkeit, Dinge zu erzählen, die bisher nicht sichtbar waren.» Geschichten über Emanzipation, Liebe und Freiheit.

 

Eine Frage der Identitäten

Finden die beiden die Bezeichnung «Schweizer Filme­macherin» passend? «Im geographischen Sinne ja, im geistigen nein», so Elene Naveriani. Marí Alessandrini teilt ihre Meinung: «Ich finde es seltsam, als Schweizer Filmemacherin bezeichnet zu werden, denn ich habe verschiedene Wurzeln und empfinde dies als Bereicherung, als meine Identität. Allenfalls könnte ich mich als argentinisch-italienisch-schweizerische Filmemacherin bezeichnen.» Sie räumt jedoch ein, dass sich während des Studiums Gemeinsamkeiten bilden – eine Art Familie, aber keine Identität: «Was uns alle verbindet, ist der Wille, Filme mit einem ganz persönlichen Blickwinkel und einer eigenen Ästhetik zu realisieren, ein eigenes Universum zu erschaffen.»

Dieser Ansicht ist auch Elene Naveriani: «Einerseits denke ich, dass wir Filmschaffenden alle etwas gemeinsam haben, doch wir sind auch sehr verschieden. Alle sehen die Welt auf ihre Weise, das macht es so faszinierend.» Wenn der Schweizer Film offen bleibt für die Sehweisen junger Filmschaffender aus der ganzen Welt, so ist seine Zukunft  abwechslungsreich und vielseitig, reich an Geschichten und Perspektiven auf die Welt.

 

▶  Originaltext: Französisch

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