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«Der Quotendruck wird kleiner»

Kathrin Halter
27. März 2019

«A Long Way Home» (2018) von Luc Schaedler lief 2018 im Kino und wird am 28. April auf SRF in der Sternstunde Kunst ausgestrahlt.

Welche Sendeplätze bei SRF für Dokumentarfilme vorgesehen sind, weshalb Pacte-Filme für die Primetime gekürzt werden und was sich ­unabhängige Filmer von SRF wünschen: Ein Gespräch mit Urs Augstburger und Luc Schaedler.

Die No-Billag-Abstimmung ist überstanden. Hat sich im Verhältnis zwischen unabhängigen Filmschaffenden und der SRG seither etwas verändert?

Urs Augstburger (UA): Die No-Billag-Phase hat uns näher gebracht, es wurde deutlich, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Man merkt das auch jetzt während den beginnenden Pacte-Verhandllungen. Diese haben hart in der Sache und doch entspannt angefangen. Von Seiten der SRG gibt es mehr Offenheit, ein stärkeres Bewusstsein für den Service public.

Luc Schaedler (LS): Tatsächlich sind wir aufeinander angewiesen. Das Fernsehen finanziert meine Filme mit und garantiert mir eine gewisse Visibilität. Handkehrum stärken unsere Dokumentarfilme mit anderen Sichtweisen und formalen Umsetzungen die Vielfalt und leisten so einen wichtigen Beitrag zur Legitimation und Erfüllung des Service Public. Ganz zu schweigen vom hohen Ansehen, das der Schweizer Dokumentarfilm international geniesst.

 

Sprechen wir zuerst von den Kinodokumentarfilmen, die im Rahmen des Pacte entstanden sind. In der Primetime werden diese fast ausschliesslich in 50-­Minuten-Versionen gezeigt. Weshalb?

UA: Pro Jahr unterstützen wir im Schnitt 23 Kinofilme sowie 15 bis 20 Fernseh-Dokfilme (AdR: siehe dazu die Statikstik in der Box). Von diesen Kinofilmen stellen die Produzenten häufig noch eine Fassung von 50 Minuten her – wobei wir dann beide Versionen ausstrahlen. Die Kurzversion hilft für eine bessere Fernseh­auswertung. Wenn wir eine möchten, fragen wir an, der Produzent entscheidet dann, ob er sie herstellen will. Er kann die 50-Minuten-Version ja auch für den Weltvertrieb brauchen. Auch RTS und RSI zeigen oft diese Fassungen. Selbst ein grosser Kultursender wie ARTE hat seine Primetime-Sendeplätze für 90-Minuten-Fassungen extrem reduziert.

 

Schaffen es Langfilme nie in die Primetime um 20 oder 21 Uhr?

UA: In Ausnahmefällen. «More than Honey» ist das bekannteste Beispiel, das auch gut funktionierte. Im Gegensatz zum wunderbaren Film «Neuland», wo dies nicht glückte. «#Female Pleasure» beispielsweise dürfte auch gut laufen, nur schon weil der Einstieg so direkt ist. Die Sendung DOK hat zudem etwa acht Sendeplätze pro Jahr für 90-Minuten-Fassungen, die jedoch meist mit Eigenproduktionen oder internationalen Produktionen besetzt werden. Von den etwa zwanzig Kinofilmen pro Jahr, an denen wir beteiligt sind, wird immerhin fast die Hälfte um 22 Uhr 20 gezeigt.

 

Dennoch, weshalb werden Kinofilme in der Primetime zwischen acht und neun ausschliesslich in Kurzversionen gezeigt? Ich persönlich beginne selten um halb elf einen Film zu schauen …

UA: Mit dem SRF-Player kann das Publikum heute selber wählen, wann es einen Film sehen will. Im Zeitalter der Mediatheken verlieren die Sendeplätze an Bedeutung. Das ist gut so, denn wer umgekehrt versucht, das TV-Publikum zu «erziehen», scheitert.

LS: Im letzten Punkt gebe ich Urs Recht. Trotzdem sollten SRF und SRG weniger auf Quoten schauen. Zum Service Public gehört ein Bildungsauftrag, eine zentrale Idee des Pacte war ja immer, dass auch längere, sperrigere Filme ihren Platz im Programm haben, auch zu besseren Sendezeiten. Da muss man unbedingt mehr Anstrengungen machen.

 

Vielleicht könnte man die Langfilme besser vermitteln?

LS: Ein Wunsch von mir ist, dass man bei langen Kinofilmen mehr unternimmt in Sachen Promotion – von Trailern, der Vorankündigung in anderen Sendungen bis hin zur redaktionellen Einführung, wie es sie bei Themenabenden auf ARTE gibt. Dort werden die Filme in einen gesellschaftlichen und historischen Kontext eingebettet.

UA: So kann man natürlich Aufmerksamkeit erhöhen, wie RTS gelegentlich mit der Sendung Infrarouge, wo auf den Film eine Diskussion folgt. Man darf allerdings nicht vergessen, dass das Fernsehen für Kinodokumentarfilme die Drittauswertung ist – nach den Festivals und dem Kinogang. Sie müssen nicht für das Fernsehen optimiert sein.

 

Wie kommen die 50-Minuten-Fassungen zustande?

LS: Ich hatte das Glück, dass bei «Angry Monk», «Watermarks» und «A Long Way Home» Sternstunden Kultur eingestiegen ist. Bei «Angry Monk» wurde damals die Herstellung der Kurzversion noch extra bezahlt! Für die Kurzversionen hatte ich wenig Vorgaben und konnte meine Unabhängigkeit, für mich ein wesentlicher Aspekt der Pacte-Idee, weitgehend bewahren. Leider geht es nicht allen so. Die Unabhängigkeit gehe, so habe ich von Kollegen gehört, teils auch verloren.

UA: Bei der Rohschnitt-Fassung für die Kinoversion gibt die Pacte-Redaktion jeweils ein Feedback – entscheiden tut dann allerdings die Regie, ob sie die Empfehlungen umsetzen will oder nicht. Oft ist bei dieser Abnahme die Fachredaktion anwesend, die sich bereits zu diesem Zeitpunkt Gedanken über eine mögliche Kurzversion machen kann.

 

Gibt es denn verbindliche Kriterien für den Schnitt?

UA: Ein wichtiges Kriterium ist bestimmt, wie man verhindert, dass die Leute in den ersten Minuten wegzappen.

LS: In der Kinoversion von «Angry Monk» gibt es einen langsamen Einstieg, es dauert fast 12 Minuten, bis die Hauptfigur auftaucht. In der Fernsehversion geht das viel schneller – da ist man in drei Minuten bei der Haupt­figur. Ich sage das etwas contre-cœur, aber für eine Fernsehausstrahlung ist es manchmal hilfreich, sich vom Epischen ein Stück weit zu verabschieden und inhaltlich-formal zu verdichten.

Darin liegt der grosse Konflikt zwischen der Lang- und der Kurzversion. Einen Kompromiss einzugehen ist für mich persönlich aber in Ordnung, solange man bei beiden Versionen die künstlerische Kontrolle behält.

 

Nach welchen Regeln entscheidet ihr euch für Untertitel oder für ein Voice-over?

LS: Für mich kommen die Bilder auf einem Fernsehbildschirm, ohne Untertitel lesen zu müssen, besser zum Tragen. Gleichzeitig hört man bei einem guten Voice-over die Originalsprache im Hintergrund ja mit. Problematisch hingegen finde ich, dass die Herstellung einer Kurzversion meist nicht zusätzlich entschädigt wird. Das ist ein  Leistungsabbau.

UA: In der Primetime, also zwischen 20 und 22 Uhr 20, bevorzugen wir deutsche Sprachversionen mit Voice-over und vermeiden es nach Möglichkeit, untertitelte Filme auszustrahlen. Das alles gilt aber nur für Kinodokumentarfilme. Aber etwa gleich viel Geld, nämlich fast eine Million pro Jahr, fliesst ja in 15-20 Fernseh-Dokumentarfilme! Und zwar nicht in interne Produktionen, sondern in  unabhängig hergestellte, die danach oft in der Primetime laufen. Das wird gerne vergessen. 

 

Reden wir jetzt von den Fernseh-Dokumentarfilmen. Wie kommt die Themenwahl zustande?

UA: Dank Vorschlägen von den Unabhängigen. Allerdings muss bei Fernsehfilmen immer eine Redaktion mit an Bord sein. Bei Filmen über kulturelle Themen ist das in der Regel die Sternstunde Kultur, bei Dokumentarfilmen zu gesellschaftspolitischen Themen eher die Sendung DOK.

LS: Wichtig ist mir, dass wir eigene Themen einbringen können und unsere Unabhängigkeit insofern gewahrt bleibt, als dass es keine Auftragsproduktionen sind. Ich persönlich habe damit aber keine Erfahrung.

 

Gibt es Kriterien für die Themen respektive für «Programmrelevanz»?

LS: Was immer wieder moniert wird, ist ein Druck zum Schweiz-Bezug.

UA: Das Publikum ist an Schweizer Inhalten interessiert, an Filmen mit Bezug zur Lebensrealität in diesem Land. Diese Filme wollen wir unterstützen, weil sie sonst nicht gemacht werden. Die Redaktionen kaufen daneben ja noch weltweit Filme für das Programm von SRF ein. Dort stehen selbstredend internationale Themen im Vordergrund. Wichtig scheint mir für die freie Szene noch: In Zukunft werden vermehrt Auftragsproduktionen an Unabhängige vergeben, das wurde beim Produzententreffen eben erklärt.

 

Die durchschnittlichen Kosten für eine Inhouseproduktion betragen etwa 114’000 Franken, ein koproduzierter «DOK»-Film kostet SRF im Schnitt etwa 65’000 Franken. Dann könnte SRF also sparen, wenn noch mehr Filme koproduziert würden?

US: Bei Koproduktionen beteiligen sich tatsächlich mehrere Partner, aber das geht natürlich nicht bei allen Filmen, die Mittel dieser Partner sind ja auch beschränkt.

LS: Bei Pacte-Filmen kommen ja noch externe Fördergelder vom BAK und den Regionalförderern hinzu. Diese Filme sind entsprechend aufwändiger produziert – auch das ist ein Mehrwert, der unabhängiges Filmschaffen gegenüber Inhouse-Produktionen attrativ macht.

 

Die SRG plant bekanntlich auf Herbst 2020 eine digitale Plattform. Was soll diese bieten?

UA: Primär werden dort Eigenproduktionen zu sehen sein. Und Pacte-Koproduktionen – in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ist Gegenstand der aktuellen Pacte-Verhandlungen.

 

Mal abgesehen von der zentralen Frage nach der Abgeltung der Urheberrechte: Wie stellst du dich zur Online-Auswertung deiner Filme, Luc? Möglichst lange, möglichst breit?

LS: Dazu habe ich noch keine klare Meinung. Dass die Filme zunehmend ins Web abwandern werden, ist eine Realität, der wir uns stellen müssen. Taktgeber sind dabei nicht die SRG, sondern die grossen Streaming­plattformen von Amazon und Netflix. Das Web ist für mich aber noch keine Option. Zuerst muss mit der SRG zwingend die Frage der Urheberrechte und deren Abgeltung gelöst sein und auch, wie wir verhindern können, dass sperrige Pacte-Filme nicht einfach auf dem Web «parkiert» werden. Dabei darf man die Verleiher nicht vergessen! Auch sie haben berechtigten Ansprüche.

 

Wird der Quotendruck auf der Plattform kleiner werden?

LS: Das wird sich erst zeigen. Was ich aber irritiert beobachte, sind die Auswirkungen der Digitalisierung auf Inhalte und die Dramaturgie unserer Filme. Im Web konsumiert man anders; man schaut kurz in einen Film rein, switcht zum nächsten, bis man irgendwo hängenbleibt. Auch bei Dokumentarfilmen ist das Intro zunehmend vom Vorspann von Serien mit ihren visuellen Explosionen und inhaltlichen Zuspitzungen beeinflusst – was eine Erwartung auf eine Dynamik auslöst, die von vielen Filmen anschliessend gar nicht eingelöst werden kann.

UA: Der Quotendruck wird kleiner, digitales Fernsehen funktioniert anders als lineares. Wenn wir dereinst eine Plattform sind, werden 50- oder 90-Minuten-Fassungen nochmals ganz anders eingesetzt. Da in Zukunft sehr vieles im Netz geschehen wird, muss man auch die bisherige Aufteilung auf Kino- und Fernsehtöpfe hinterfragen. Das wird in den Pacte-­Verhandlungen auch getan.

Urs Augstburger ist verantwortlich für die Pacte-Koproduktionen von SRF und SRG im Dokumentarfilmbereich.

Luc Schaedler ist Filmemacher und Autorenproduzent

▶  Originaltext: Deutsch

 

«Die Zukunft des Kinodokumentarfilms», Visions du Réel

Kino, Fernsehen und digitale Plattformen sowie die Rezeptionsgewohnheiten des Publikums unterliegen einem radikalen Wandel. Was hat das für den Kinodokumentarfilm für Auswirkungen und wie sollen sich Dokumentarfilmschaffende dazu verhalten?

Das Focal-Seminar fragt nach neuen Formen der Zusammenarbeit mit dem Fernsehen und Filmförderern und danach, wie der lange Dokumentarfilm in Zukunft sein Publikum ­finden kann.

Referierende:

Steven Artels, RTS; Urs Augstburger, SRF und SRG; Jean-Marie Barbe, Tënk; Joëlle Bertossa, Close Up Films, AROPA; Frank Braun, Neugass Kino AG; Luc Martin-Gousset, Point du Jour; Susa Katz, Zürcher Filmstiftung; Ivo Kummer, BAK; Orwa Nyrabia, IDFA; Gérard Ruey, Cinéforom; Audrius Stonys, Regisseur, Eurimages; Isabelle Christiaens, RTBF.

Modération: David Bernet

Sonntag, 7. April 2019,

10:30–13:30

Industry (La Mobilière), Screening Room 1

Im Anschluss Apéro von ARF/FDS. Deutsch und Französisch mit englischer Übersetzung

Eintritt frei

 

PACTE-FILME BEI SRF

Budget: Für Pacte-Produktionen im Dokumen­tarfilm stehen SRF im Jahr 2019 knapp ­2 Millionen Franken (1ʼ991ʼ000) zur Verfügung, davon gehen rund die Hälfte (1ʼ003ʼ000 Fr., ohne nationale Gelder) an Kino-Dokumentarfilme sowie 988ʼ000 Fr. (inkl. Redaktionsgelder) an ­Pacte-TV-Dokumentarfilme.

Insgesamt 130 Pacte-Filme wurden 2016-2019 koproduziert.

2016: 23 Kinofilme, 20 TV-Filme

2017: 21 Kinofilme, 16 TV-Filme

2018: 23 Kinofilme, 15 TV-Filme

Alle Filme laufen auf Play SRF.

Sendeplätze für Pacte-Filme (50 Min.) seit Jan 2019

DOK: Mittwoch um 20:50 Uhr, Donnerstag um 20:05 Uhr

Sternstunde Kultur: Sonntag Mittag (mit Wiederholungen)

3-Sat: über das Programm verteilt

Sendeplätze für lange Pacte-Filme (90 Min.)

Reihe Sommer-Dok: Freitag 22.20

CH:Filmszene: Mittwoch um Mitternacht

 

Neu werden Auftragsproduktionen vergeben,
2-5 DOK-Eigenproduktionen, 2 DOK-Serien (à 4 Folgen) sowie Beiträge für die Sendung Reporter (Anzahl noch unbestimmt)

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