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«Das Fantastische bietet einen Raum für unglaubliche Freiheiten»

Adrien Kuenzy
30. Juni 2022

Pierre-Yves Walder (links) lancierte am Freitag seine erste Festivalausgabe. ©Miguel Bueno

In seiner ersten Ausgabe setzt der künstlerische Leiter des NIFFF auf Grundlegendes des Genres und bietet queeren Themen einen Raum. Joyce Carol Oates, Hohepriesterin der amerikanischen Literatur, ist ebenfalls Ehrengast. Ein Gespräch. 

Neue Direktoren neigen dazu, eine Revolution zu starten, aber Sie haben sich für Kontinuität entschieden. Damit der Neustart des Festivals reibungslos verläuft?

Ich bin bereits seit etwa zehn Jahren an der Programmgestaltung des NIFFF und seiner Entwicklung beteiligt. Es ist nicht nötig, ein Konzept völlig umzuwandeln, wenn es funktioniert. Änderungen um der Änderungen willen bringen nichts. Darüber hinaus wurden die Hauptsektionen der offiziellen Auswahl logischerweise in Bezug auf das Genrekino definiert. Der internationale Wettbewerb öffnet ein Fenster zum zeitgenössischen fantastischen Film aller Stilrichtungen. Das asiatische Kino stellt einen weiteren Schwerpunkt dar, ebenso wie die Sektion Third Kind, die Werke beleuchtet, die wir lieben, die aber auch vom Genre abweichen. In der Tat war es eher die inhaltliche Ebene, wie die Retrospektive Scream Queer, der ich meinen Stempel aufdrücken wollte. Gleichzeitig sollte die transversale Dimension des Festivals weiterentwickelt werden, durch Werke, die sich in anderen künstlerischen Disziplinen widerspiegeln und abwandeln.

 

Die Retrospektive Scream Queer beschäftigt sich mit der Darstellung von LGBTIQ+ Kulturen im Film. Eignet sich die Fantasy gut für diese Geschichten?

Die Fantasy bietet einen unglaublichen Freiraum. Am NIFFF gab es schon immer queere Filme. Die Idee dieser Retrospektive ist es, ihre historische Entwicklung im fantastischen Film aufzuzeigen und zu thematisieren. Die queere Kultur taucht auf der Leinwand wahrscheinlich schon seit den Anfängen auf. Der älteste Film, den wir zeigen, «Salome» von Charles Bryant und Alla Nazimova, stammt aus dem Jahr 1922. Es ist ein wunderschönes Werk, das ein wenig an Art Deco erinnert. Wir haben auch queere Filme in der offiziellen Sektion, aber das Interessante daran ist, dass sie nicht thematisiert werden, obwohl sie queere Elemente enthalten. Ich denke da zum Beispiel an «Hypochondriac» der Amerikanerin Addison Heimann. Die Hauptfigur ist schwul und in einer Beziehung, aber das ist nicht das Thema. Diese Tendenz, die Aufmerksamkeit nicht mehr speziell darauf zu richten, ist ziemlich neu. Interessant ist, dass parallel auch in der Retrospektive ein «queerer Bösewicht» vorkommt. Eine böse und verstörende Figur, ähnlich wie Norman Bates in Alfred Hitchcocks «Psycho», der sich ebenfalls in unserer Auswahl befindet. Diese Filme werfen schliesslich Fragen auf: Funktionieren diese alten, aufregenden Darstellungen heute noch?

 

Nimmt das Fantastische im Schweizer Film besondere Töne an?

Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall sehe ich seit Jahren eine Entwicklung in der Möglichkeit, ambitionierte Schweizer Werke zu programmieren. In diesem Jahr gibt es hyperpertinente Filme, insbesondere in der Sektion Amazing Switzerland. Markus Fischer schafft mit «Die schwarze Spinne» einen wirklich soliden mittelalterlichen Horrorfilm. Lorenz Merz taucht mit «Soul of a Beast» in eine impressionistische, aber völlig fantastische Welt ein, die sogar eine surrealistische Dimension aufweist. Es ist ein sehr persönliches Werk. Im Gegensatz dazu hat Markus Fischer einen etwas düsteren Gothic-Film gedreht, der von Spezialeffekten getragen wird. Schließlich ist der Nachwuchs für mich sehr wichtig. Die Kurzfilme der HEAD haben häufig auch eine queere Dimension, die heute übrigens für neue Talente ganz natürlich zu sein scheint.

 

Das Programm NIFFF Extended wird es den Fachleuten auch ermöglichen, sich zu treffen. Wäre es für den Schweizer Fantasy-Film von Vorteil, wenn er mehr mit internationalen Talenten zusammenarbeiten würde?

Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Für die Schweizer ist es offensichtlich, dass es immer noch den Wunsch gibt, international zu arbeiten. Viele Schweizer Künstler gehen ins Ausland, zum Beispiel Lara Lom, die in unserer Méliès-Jury sitzt und eine Koryphäe auf dem Gebiet der Spezialeffekte ist. Heute arbeitet sie in London. Die Technologieszene in der Schweiz hat nicht auf den Film gewartet, um sich international zu vernetzen. Es ist immer das Gleiche: Leute, die sich in der Schweiz etwas eingeengt fühlen und ihre Ambitionen nicht erfüllen können, gehen weg. Die Schweiz verfügt über viel Talent und Kreativität, aber ihre Grösse wird es ihr nicht erlauben, acht fantastische Blockbuster pro Jahr hervorzubringen. Im vergangenen Jahr sorgte «Tides» von Tim Fehlbaum für Aufsehen. Aber man darf nicht vergessen, dass «Hell» vom selben Filmemacher zehn Jahre zuvor in die Kinos gekommen war.

 

Warum ist das Fantasy-Genre heute so populär?

Das ist die Rache des Nerds! Aber es hängt auch mit den riesigen Franchises und den Konsummitteln zusammen. Heute gibt es grosse Fan-Gemeinden. Sie äussern sich, diskutieren und verbreiten ihre Meinung. Das hat einen großen Einfluss auf die Art und Weise, wie produziert wird. Viele Fantasy-Serien basieren heute auf den Codes des Thrillers, auf der Faszination für das, was passiert. Das ist zum Teil das, was die Zuschauer anzieht. Es ist diese Mischung, die mir wichtig ist und die ein gutes Mittel sein kann, um Dinge zu erzählen. Das findet man natürlich in «Les Cinq Diables» von Léa Mysius, unserem Eröffnungsfilm. Aber auch in «Ashkal» von Youssef Chebbi, einem meiner Lieblingsfilme, der im Wettbewerb läuft. Es ist ein fantastisches Werk, das aber sehr in der Realität in Tunesien verankert ist. Ein weiteres gutes Beispiel ist «Falcon Lake» von Charlotte Le Bon, der in der Sektion Third Kind läuft. Die Geschichte ist auf den ersten Blick überhaupt nicht fantastisch und behandelt das Heranwachsen in Québec während der Sommerflaute auf poetische Weise. Außer am Ende, wo fantastische Aspekte alles in Frage stellen.

 

Originaltext: Französisch

 

 

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