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Wo Kritiker ihren Einfluss zeigen

Kathrin Halter
02. August 2019

Andrang vor dem Kursaal, dem ehemaligen Austragungsort der Semaine, die jetzt neu in La Sala läuft. © zvg

Die Kritikerwoche, bekannter als Semaine de la critique, feiert ihren 30. Geburtstag. Ein Blick zurück und ein paar Fragen zur Programmarbeit.

Für viele in Locarno ist der Anlass in ihrem Festivalkalender fix eingetragen: Sich jeweils morgens um halb elf einzureihen in die meist schon lange Reihe Wartender, die es ebenfalls in die «Semaine» zieht. Um elf dann ein Dokumentarfilm, gefolgt von einem halbstündigen, mehrsprachig moderierten Filmgespräch. Es soll Leute geben, die das Ritual, der Auswahl blind vertrauend, täglich wiederholen, seit Jahren schon. Denn die Kritikerwoche gilt vielen als sicherer Wert; hier weiss man, was man bekommt. Die Erfahrung bestätigt das Profil der Reihe und ihren guten Ruf.

Doch wie kommt das Programm eigentlich zustande? Wo sehen sich die Kritiker heute? Und wohin wollen sie mit ihrem Programm in den nächsten zehn Jahren? Diesen Sommer wird die Semaine dreissig, ein guter Anlass, dem jetzigen Leiter, der langjährigen früheren Leiterin sowie dem Gründer der Semaine ein paar Fragen zu stellen.

 

Lebhafte Diskussionen um die Auswahl

Marco Zucchi, Journalist bei RSI, ist seit 2017 Programmdelegierter der Semaine und somit Leiter ihrer Auswahlkommission. Diese setzt sich aus jeweils sieben Filmjournalistinnen und -journalisten zusammen, die (wie ­Zucchi selber) dem Berufsverband SVFJ angehören. Rund 220 Filme haben die vier Frauen und vier Männer im Verlaufe dieses Jahres gesichtet, bevor man sich im April zu einer ersten Vorauswahl getroffen und an einem ver­längerten Wochenende im Juni von zwölf Favoriten auf sieben Filme festgelegt hat. Jedes Mitglied schreibt zu einem Film einen Einführungstext für den Katalog; die mehr­sprachige Moderation der Filmgespräche macht seit 16 Jahren Till Brockmann, der dadurch zu einem Gesicht der Semaine geworden ist.

Zu den Auswahlkriterien gehört der Anspruch, Weltpremieren oder zumindest internationale Premieren zu finden, zu den inoffiziellen eine gewisse Ausgewogenheit der  Themen (also nicht drei Filme über Salsa oder den Klimawandel) sowie bei der Vertretung der Geschlechter. Natürlich gebe es bei der Auswahl teils lebhafte Diskussionen, sagt ­Zucchi; diese schätzt er schon von Berufs wegen. Uneinig war man sich zum Beispiel bei «La Mort du Dieu serpent» von Damien ­Froidevaux, der 2014 im Programm lief, ein Film über eine junge, in Frankreich aufgewachsene Frau, die nach einer Schlägerei nach Senegal ausgewiesen wird. Ein Teil der Auswahlgruppe befand die Art und Weise, wie Froidevaux von Widersprüchen im Umgang von Migranten in Europa erzählt, radikal und wichtig, so Zucchi; die Skeptischen kritisierten die Bedächtigkeit des Films und fanden den Film aus ethischer Sicht eher fragwürdig. Schlussendlich erhielt der Film von der Jury gleich zwei Preise. 

An teils heftige Diskussionen erinnert sich auch Irene Genhart, die die Semaine am läng­sten geleitet hat, nämlich während vierzehn Jahren, von 2000 bis 2014. Sie tat es zunächst gemeinsam mit Thomas Schärer, dann mit Michael Sennhauser und schliesslich mit Simon Spiegel. Die umstrittensten Filme seien immer auch die interessantesten und besten gewesen, sagt sie. Dazu zählt sie, vereinfacht gesagt, vor allem zwei Sorten Dokumentarfilme: Diejenigen von Filmschaffenden, die sich über lange Zeit intensiv mit einem Thema beschäftigt haben wie Robert Cibis und Lilian Franck in «Pianomania» (2009) über die Arbeit von Klavierstimmern. Sowie jene aktuellen Reportagen von Autoren, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren wie «Three Comrades» (2006) der Holländerin Masha Novikova über drei junge Männer aus Grozny vor und während des Tschetschenienkrieges.

Wie Marco Zucchi hat schon Irene Genhart jeweils am Markt der Berlinale oder in Cannes nach Filmen gesucht. Der Aufwand für die Delegierten sei schon gross gewesen, so Genhart, die von einem (übers Jahr gesehen) ehrenamtlichen 25-Prozent-Job spricht (heute gibt es neben der Spesenentschädigung eine kleine Entlöhnung). So kam man, auch dank einem wachsenden Beziehungsnetz, zusammen mit den eingesandten Titeln auf über 300 Filme; hinzu kamen jene, die das Festival der Semaine selber empfiehlt.

 

Der Anfang unter Jean Perret

Bei der Entstehung der Kritikerwoche, zu Zeiten von VHS-Kasetten oder gar 8-Millimeter-Kopien, war das Ganze, mit vielleicht 100 Filmen, noch übersichtlicher. Gegründet wurde die Kritikerwoche 1990 von Jean Perret, in Anlehnung an die seit 1961 bestehende Semaine de la Critique von Cannes (und Kritikerwochen an anderen Festivals). Perret, damals Präsident des SVFJ, wollte einerseits, dass man mehr von der Arbeit des Filmjournalistenverbands und seiner Mitglieder erfährt. Eine verstärkte Präsenz in der Öffentlichkeit mit Hilfe eines anerkannten Labels.

Andererseits grenzte man sich mit der Wahl langer, künstlerisch anspruchsvoller Dokumentarfilme von Cannes ab, deren Kritiker Spielfilme zeigen. Diese Entscheidung hatte viel mit Locarno zu tun, das sein Programm damals fast vollständig auf Spielfilme beschränkte. Man überlegte also, was für die Schweiz und in Locarno Sinn ergeben könnte. Gegenüber dem Festival verstand man sich nicht als Konkurrenz, sondern wollte die Diskussion über das zeitgenössische Kino bereichern. Zugleich hat man vom guten Ruf von Locarno profitiert – und irgendwann auch ein bisschen umgekehrt. David Streiff, künstlerischer Direktor von 1981-1991, war mit dem Ansinnen jedenfalls sofort einverstanden, sagt Perret. Zumal die Semaine von Beginn weg mit dem Anspruch auftrat, Neuentdeckungen sowie renommierte, aber hierzulande noch wenig bekannte Namen vorzustellen.  

Anspruchsvolle Dokumentarfilme also: Darunter zählte man zum Beispiel den dokumentarischen Essayfilm «Requiem» (1992) von Walter Marti und Reni Mertens, «ein musikalisches Filmgedicht ohne Worte» über europäische Soldatenfriedhöfe. Oder, ein Beispiel aus dem Gründungsjahr 1989, «Der grüne Berg» von Fredi M. Murer, der dieses Jahr anlässlich des Jubiläums in einer Sondervorstellung gezeigt wird. Perret nennt auch die Weltpremiere «Boatman», den Erstling von Gianfranco Rosi oder Filme von Volker Koepp, der damals bei uns noch kaum bekannt war.

Den künstlerischen Anspruch von Dokumentarfilmen bekräftigte man mit profunden Einführungstexten, die über blosse Produktions­notizen – wie oft in Festivalkatalogen –  hinausgingen. Auch die strikte Abgrenzung vom Spielfilm wollte man ein Stück weit in Frage stellen.

Beim Publikum und der Presse hatte die Semaine schnell Erfolg. Ernsthaft in Frage gestellt war sie nur einmal, unter der Direktion von Marco Müller, der sie abschaffen wollte, was dann Festival-Präsident Raimondo Rezzonico verhindert hat.  

 

Beachtete Schweizer Beiträge

Gibt es überhaupt Gründe, die so beliebte Sektion zu verändern? Dokumentarfilme haben heute bekanntlich auch im regulären Programm von Locarno Platz, allerdings eher punktuell und nicht in einer eigens dafür vorgesehenen Sektion. Hinzu kommt: Für den Veranstalter SVFJ ist die Kritikerwoche nach wie vor Aushängeschild, auch eine Form von Öffentlichkeitsarbeit einer Berufsgruppe, die in Zeiten von Medienkonzentration, Sparbeschlüssen auf Redaktionen und mangelnder Beachtung in Bedrängnis geraten ist.  

Dabei hilft auch die besondere Beachtung, die jeweils der Schweizer Beitrag findet. Als ein Glücksfall darf der letztjährige Titel «#Female Pleasure» von Barbara Miller gelten, bei dem sowohl der Film wie die Semaine vom grossen Zulauf samt anschliessender Standing Ovation profitierten. Nach einer weiteren Festi­valkarriere reüssierte «#Female Pleasure» auch im Kino – anders als ein Jahr zuvor «Das Kongo Tribunal» von Milo Rau mit maximaler medialer Beachtung und eher mittelmässigem Kinoerfolg. 

Ansonsten pflegt man mit dem Festival eine gute Zusammenarbeit. Es organisiert die Programmation und hilft, so Marco Zucchi, auch bei der Betreuung und Unterbringung der Gäste. Teils wünschte man sich auf Seiten der Semaine zwar bessere Konditionen: Dass die 11-Uhr-Vorstellung letztes Jahr vom Kursaal in La Sala verlegt wurde, wurde auch schon kritisiert, ebenso, dass die Simultanübersetzung bei den Vorstellungen eingespart wird. Doch jetzt will man erst einmal feiern.

 

▶  Originaltext: Deutsch

Spezialvorstellung zum Jubiläum

«Der grüne Berg» (1990) von Fredi M. Murer

13. August, 14.30, PalaCinema 1, Locarno

In Anwesenheit von Fredi Murer, Jean Perret und Lili Hinstin.

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