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Die Obsession für das Publikum

Pascaline Sordet
06. Januar 2022

Die Solothurner Filmtage widmen ihr Spezialprogramm Fokus dem Thema Publikum. © moduleplus

Die Besucherzahlen der Kinos gehen stetig zurück, und die Pandemie hat den Wandel der Konsumgewohnheiten noch beschleunigt. Das Publikum zurückzugewinnen und genau dort abzuholen, wo es ist und sein möchte, ist eine der grossen Herausforderungen der nächsten Jahre.

Das heutige Publikum wurde mit diesen verdammten Handys aufgezogen». So erklärte Ridley Scott den Flop seines Filmes «The Last Duel». Der amerikanische Regisseur ist nicht der Einzige, dem der Wandel in den Gewohnheiten und der Erziehung des Publikums Sorgen bereitet. Auch der Schweizer Film sucht nach Lösungen, um sein Publikum weiterhin zu erreichen.

Die Zahlen des Bundesamts für Statistik bestätigen die prekäre Lage. Obwohl die Zahl der Kinos sich seit den 1960er-Jahren halbierte, blieb die Anzahl Leinwände aufgrund der neuen Multiplex-Kinos konstant. Das Angebot hingegen hat enorm zugenommen: Vor Beginn der Pandemie wurden 85 Prozent mehr Kinostarts verzeichnet als 1995, und die Anzahl Schweizer Filme hat sich gar verdreifacht. Das Publikum zieht jedoch nicht mit, und die wiederholten Lockdowns haben den Wandel der Konsumgewohnheiten zusätzlich beschleunigt. Die Eintritte pro Einwohner sind drastisch zurückgegangen, von 3,3 im Jahr 1980 auf 1,5 im Jahr 2019, und fielen 2020 auf 0,5. Dass praktisch nur über Vorführungen im Kinosaal gesprochen wird, liegt daran, dass die Ökonomie der Kinos immer noch hauptsächlich darauf beruht – ein Aspekt, der womöglich überdacht werden muss.

Denn die Schweizer Bevölkerung schaut Filme, einschliesslich die von Ridley Scott kritisierte Generation der unter 30-Jährigen. 57 Prozent nutzen Streaming- und (legale oder illegale) Download-Plattformen, 82 Prozent schauen Filme am Fernsehen. Ins Kino gehen sogar 90 Prozent, wenn auch nicht regelmässig.

Ein möglicher Ansatz ist der Preis. Am Branchenanlass für Dokumentarfilmschaffende unter dem Titel «Wo ist das Publikum?», den Focal zusammen mit Visions du Réel und ARF/FDS im November in Biel organisierte, kristallisierten sich zwei Ideen heraus. Die eine besteht darin, die Beiträge von Succès Cinéma zu streichen und stattdessen den Eintrittspreis für alle Schweizer Filme auf fünf Franken zu senken. Die zweite schlägt eine Art seven-24-Abo fürs Kino vor, mit dem junge Leute gegen eine bescheidene Jahresgebühr uneingeschränkten Zugang zu den Kinos erhalten, vorausgesetzt jeder zehnte Besuch gilt einem Schweizer Film. Gegen den Preis als einzigen Ansatzpunkt sprechen allerdings die diversen Initiativen, welche die Branche ergriffen hat, um das Publikum für das Abenteuer Kino zu begeistern.

 

#Ciné für Jugendliche 

«Ein geringer Preis schafft einen Anreiz», bestätigt Ilan Vallotton, Geschäftsführer der Zauberlaterne. Der Verein schuf 2017 unter dem Namen #Ciné ein Programm für 14- bis 18-Jährige in zehn Schweizer Städten der drei Sprachregionen. Damit niemand aus finanziellen Gründen verzichten muss, kostet der Eintritt zu den monatlichen Vorstellungen nur acht Franken. «Das ist jedoch nicht der einzige Anreiz. Nur weil es günstig ist, kommen die Jugendlichen nicht. Wenn wir ausschliesslich mit dem Preis arbeiten würden, hätten wir wohl kein Publikum, ausser für Filme, mit denen speziell  Jugendliche angesprochen werden.» Das Projekt setzt auch auf Mitbestimmung: Die Jugendlichen wählen aus den aktuellen Kinostarts die favorisierten Filme aus, stellen das Programm zusammen und machen Werbung dafür. Die Veranstaltungen werden vollumfänglich von den Jugendlichen organisiert, von der Planung bis zur Kommunikation.

Entgegen dem Vorurteil, die jungen Leute hätten keine Filmkultur mehr, «ist das Niveau bei der Begründung ihrer Wahl recht hoch. Die Gruppenintelligenz entwickelt sich zusehends, und eine gewisse Reife entsteht.» Mitbestimmung füllt die Kinosäle sicherlich nicht auf einen Schlag, doch sie trägt dazu bei, ein Publikum aufzubauen. «Ich war beeindruckt», so Ilan Vallotton. «Aus Zuschauer:innen, die einmal pro Jahr ins Kino gehen, ist eine Community geworden, die sich gegenseitig über Filmstarts informiert, in den sozialen Netzwerken über Filme diskutiert und sich aktiv einbringt.»

 

Ciné-Doc für Dokumentarfilme

Partizipation steht auch bei Ciné-Doc  im Zentrum. Der Verein setzt sich in erster Linie für die Vorführung von Dokumentarfilmen abseits der grossen Städte ein. Ab Herbst 2022 plant er eine landesweite Veranstaltung im Stil des Mois du film documentaire in Frankreich oder LETsDOK in Deutschland, um die Verbreitung des Dokumentarfilms und die Begegnung mit dem Publikum zu fördern. Ziel ist es, das Publikum von Anfang an in die Filmauswahl einzubeziehen, um vom klassischen Modell des Top-Down-Angebots wegzukommen.

Ciné-Doc stellt an den Solothurner Filmtagen ein Pilotprojekt dieser Veranstaltung vor, da es auch im Fokus-Programm des Festivals um das Thema Publikum geht. Gwennaël Bolomey, Gründer und Leiter von Ciné-Doc, erklärt das Konzept: «Wir haben eine Laienjury mit je einer Gruppe aus jeder Sprachregion gebildet: eine Gymnasialklasse aus Solothurn, eine Seniorengruppe aus einer Tagesstruktur im Tessin und ein schweizerisch-brasilianischer Filmclub aus der Westschweiz. Diese Jury tauscht sich aus, trifft sich und wählt gemeinsam einen Kurzfilm und ein darin angesprochenes gesellschaftliches Thema aus. Das Ergebnis präsentiert die Jury selbst in Solothurn». Ciné-Doc sieht sich als Vermittler zwischen Filmschaffenden und Publikum. «Für die Filmverleihe ist es schwierig, das Publikum zu erreichen», so Gwennaël Bolomey. «Wir bieten ein Label und schaffen mit unseren Veranstaltungen eine Publikumsbindung. Wir können die nötige Zeit und Energie investieren, um jede Vorführung zu begleiten. Dies ist den Kinobetreiber:innen nicht immer möglich.»

 

Öffnung der Jurys am GIFF

Nicht nur im Bereich des Dokumentarfilms steht Partizipation hoch im Kurs, auch das GIFF verfolgt ein ähnliches Konzept. Um das Fachwissen des Publikums zu nutzen, wurde die Jury des internationalen Serien-Wettbewerbs 2021 aus fünf Festivalbesucher:innen zusammengestellt, die sich im Rahmen einer Ausschreibung bewerben konnten. Insgesamt waren 174 Bewerbungen eingegangen. Für Festivalleiterin Anaïs Emery ein gelungenes Experiment: «Wir werden diesen Kurs weiterverfolgen. Es lief so reibungslos und natürlich ab, dass ich hoffe, andere Institutionen folgen unserem Beispiel.»

Doch was bringt es einer Veranstaltung, abgesehen von der neuen Erfahrung und dem Marketingeffekt, ihr Publikum mit einzubeziehen, als ob es vom Fach wäre? «Wir können uns mit dem Publikum austauschen und seine Meinung dazu hören, was eine gute Serie ausmacht. Dies schafft eine Verbindung mit der Community, die lebenswichtig ist für die Branche.» Der Nutzen solcher Initiativen ist langfristig und liefert den Filmschaffenden und Produzent:innen direktes Feedback vom Publikum. «Es gibt Dinge, die ein Algorithmus nicht erfassen kann», so die Festivalleiterin, vor allem wenn es um Gefühle geht.

 

Myworld.cinema im täglichen Leben

Das Programm einzelner Veranstaltungen mitbestimmen ist gut; dauerhaft bei der Programmgestaltung mitreden ist noch besser. Genau das plant myworld.cinema, ein Projekt, das noch in der Entwicklungsphase steht und sich an GoGoCinema orientiert, einem ähnlichen Konzept aus Asien. Es erhielt kürzlich als eines der Transformationsprojekte einen Förderbeitrag von 300’000 Franken vom Kanton Zürich. Sein Ansatz: auf dem Mobiltelefon einen Film auswählen und ihn 15 Minuten später in einem Kinosaal anschauen.

Das Konzept erinnert an das Projekt GoKino, das der Filmverleih Outside the Box 2014 lancierte und 2015 wieder einstellte. Interessierte Personen konnten einen Film auswählen und mussten dann eine Mindestzahl an Zuschauer:innen zusammenbringen, damit die Vorführung stattfinden konnte. «Das hat nicht funktioniert», bekennt Thierry Spicher, «nicht weil es das Publikum nicht interessierte, wir hatten viele Filmvorschläge. Doch die Kinos wollten einen Mindestumsatz, sodass wir selten genügend Zuschauer:innen zusammenbrachten.» Mit Ausnahme von ein paar jungen Horrorfilm-Fans und gewissen Communitys für Kultfilme hatten die meisten Leute keine Lust, sich als Werber für ihre Filme zu betätigen.

Das zweite Problem von GoKino war struktureller Art. Das Projekt hatte nicht genügend Mittel und Investoren, um Werbung zu betreiben und die ersten Jahre bis zum Erreichen des finanziellen Gleichgewichts zu überleben. «Dann wurde unsere Idee gestohlen, was nur natürlich ist», fügt der Verleiher hinzu, dem die Ideen nie ausgehen. Aus unternehmerischer Sicht bedauert er, dass es so viele neue Initiativen gibt, aber alle nur über begrenzte Mittel verfügen und denen deshalb das gleiche Schicksal droht: «Das Geld wird auf mehrere ähnliche Projekte verstreut, die vom Publikum oft nicht wahrgenommen werden.» Gemäss Spicher scheitert eine grundlegende Anpassung des Angebots, die das Kino als Kulturpraxis nachhaltig verändern könnte, an der Unfähigkeit der Branche, sich zusammenzuschliessen und eine gemeinsame Antwort auf das Problem des Besucherschwunds zu finden.

 

Eine Nischenkunst?

All diese Bemühungen, seien sie noch so unorganisiert und verzettelt, zeigen doch, dass das Problem angegangen wird. Die Diskussion, die der Dokumentarfilm seit Visions du Réel führt und die sich in Solothurn fortsetzt, ist erfreulich, und die audiovisuelle Branche hat bewiesen, dass sie fähig ist, sich auf nationaler Ebene zu organisieren, wenn es um etwas Lebenswichtiges wie Corona-Hilfen oder die Lex Netflix geht. Hoffen wir, dass es beim umstrittenen Thema der Publikumsbindung auch so sein wird.

Das Publikum ist sehr vielschichtig und keineswegs eine formlose Masse. Es ist auch keine cinephile Masse – in Wahrheit ist es gar keine Masse mehr. Müssen wir daraus ableiten, dass das Autorenkino zur Nischenkultur wird, wie das Theater, während Serien und Blockbuster mehr und mehr zum Streaming übergehen? Wenn dem so ist, müssen wir unsere Definition von Erfolg sowie die Finanzierung der Kinos grundlegend überdenken, denn sie wären keine Geschäftsbetriebe mehr, sondern Kultureinrichtungen.  

 

Originaltext Französisch

 

Solothurner Filmtage – Fokus «Publikumsfantasien»

Ort: Kino im Uferbau 

 

Sonntag 23.1.

11.00 Architektur : Bauen für ein Publikum 

13.00 Testscreening

16.45 Die Fans: Eine neue Grösse in der Kunstwelt

 

Montag 24.1.

13.00 Dokumentarfilm : Wer entscheidet, was gezeigt wird?

15.15 Das junge Publikum: Eine Erfindung?

 

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