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Treffpunkt: Niccolò Castelli

Adrien Kuenzy & Teresa Vena
13. Januar 2023

© Solothurner Filmtage 2023

Der neue künstlerische Leiter der Solothurner Filmtage ist überzeugt, der Schweizer Film werde politischer und spiele aufgrund seiner kulturellen Vielfalt auch ausserhalb der Landesgrenzen eine wichtige Rolle.

Fürchten Sie einen Interessenkonflikt zwischen Ihren Rollen als künstlerischer Leiter und als Regisseur?

Nein, keineswegs. Dank meiner Erfahrung als Filmemacher kann ich in Solothurn die praktische Dimension einbringen und zugleich den Blickwinkel des Festivals mit allen Filmschaffenden und Produzenten und Produzentinnen teilen, die ich kenne. Ein Interessenkonflikt bestünde nur dann, wenn ich die Werke befreundeter Filmschaffender bevorzugen würde, doch dann könnte ich nachts nicht mehr schlafen. Jeder künstlerische Leiter fühlt sich einem Milieu, einer Kultur besonders verbunden, doch das bedeutet nicht, dass er Vetternwirtschaft betreibt. Ich zum Beispiel habe als Italienischsprachiger auch einen anderen Blick auf Deutschschweizer Filme.

 

Inwiefern stellt diese Tessiner Sichtweise Ihrer Meinung nach eine Stärke dar?

Das Tessin ist im Grunde ein Grenzgebiet zwischen Mitteleuropa und dem Mittelmeerraum. Mein Blickpunkt reicht somit über die Landesgrenzen hinaus. Was ich esse und lese, stammt aus dem Süden, doch Politik geschieht für mich in der Schweiz. Die Tessiner leiden zuweilen an einem Minderwertigkeitskomplex, aber wir können diesen auch zu einer Stärke machen. Wir haben eine dezentrale Sicht auf unser Land, und das ist gut so.

 

Die Schweiz leidet mitunter auch an einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Rest der Welt. Was möchten Sie zum Image des Schweizer Films im Ausland beitragen?

Ich möchte, dass wir stolz sind auf unsere Filme, jenseits aller Klischees. Unser Land liegt mitten in Europa und kann eine wichtige Rolle übernehmen. Wir müssen auf unsere Diversität setzen anstatt auf eine künstliche Einheits-Identität, die es nicht gibt. Zudem müssen wir universelle Themen ansprechen. Derzeit wird zum Beispiel viel über den Krieg in der Ukraine oder über Nachhaltigkeit gesprochen. Unsere Filme können solche Thematiken aus einem besonderen Blickwinkel beleuchten.

 

Fliessen aufgrund Ihrer Tätigkeit als Filmemacher bei der Filmauswahl andere Kriterien ein?

Auf jeden Fall, deshalb arbeiten wir auch in der Auswahlkommission mit Filmschaffenden. Wir erkennen zum Beispiel, wenn mit sehr bescheidenen Mitteln ein grossartiger Film entstanden ist. Ich denke da etwa an «A Forgotten Man» von Laurent Nègre, der einen Eindruck des Kriegs vermittelt, obwohl die Handlung in einigen wenigen Räumen spielt.

 

Ein grosser Teil der Filme in Ihrem Programm hat eine starke politische Komponente. War das eine bewusste Wahl?

Die Solothurner Filmtage sind das Ergebnis der eingereichten Produktionen, die wiederum ein Spiegel unserer Zeit sind. Ich denke, wir leben zurzeit mit vielen Unsicherheiten, auf allen Ebenen. Es ist faszinierend zu beobachten, dass der Film in unserer Gesellschaft eine Rolle spielt, die in der Vergangenheit ein wenig in Vergessenheit geraten war. Ich verwende den Begriff «politisch» übrigens eher in einem philosophischen Sinne, als eine Beziehung zwischen einem Film und der Gesellschaft.

 

Wie möchten Sie die junge Generation von Filmschaffenden unterstützen?

Sie alle haben das Bedürfnis, gehört zu werden und sich ausdrücken, nicht nur über ihre Filme, sondern auch im direkten Austausch. Die Solothurner Filmtage bieten diese Möglichkeit; hier treffen verschiedene Generationen und Sprachregionen aufeinander. Zudem müssen wir uns bei der Filmauswahl mutig zeigen. Für die Sektion «Opera Prima» wählen wir Werke aus, die vielleicht nicht perfekt, aber ausdrucksstark sind und Risiken eingehen. Das ist die beste Art, die neue Generation von Filmschaffenden zu unterstützen.

 

Sie haben eine grosse Maschinerie übernommen. Ist es schwierig, hier grundlegende Veränderungen einzubringen? Haben Sie schon welche geplant?

Ich würde dieses Festival nicht als «grosse Maschinerie» bezeichnen. Das Team ist jung und agil, und es braucht keine komplette Neuorganisation. Es wird Veränderungen geben, aber nicht alle gleich in meinem ersten Jahr, das wäre nicht klug. Das Festival ist bereits sehr gut aufgestellt, das habe ich sofort erkannt. Es wird jedoch sicher eine Entwicklung stattfinden, denn unsere Branche befindet sich in grossem Wandel. 2024 tritt die «Lex Netflix» in Kraft und wird neue Akteure auf den Plan bringen. Wir müssen die Plattformen davon überzeugen, ihre Produktionen bei uns zu zeigen, was Netflix oder Sky zu Beginn vielleicht nicht unbedingt wollen. Ich hoffe auf jeden Fall, dass diese Veränderungen uns dazu bewegen, gewisse Formate zu überdenken. Die Schweiz produziert zum Beispiel sehr wenige Dokumentarserien, was ich sehr schade finde.

 

Welche Schwachpunkte des Festivals möchten Sie verbessern?

Das ist schwer zu sagen, denn viele Aspekte hängen mit der Coronapandemie und der Entwicklung der Streaming-Plattformen zusammen. Die Öffnung des Festivals gegenüber digitalen Formaten war notwendig, doch Solothurn muss in erster Linie ein Ort des Austauschs für die gesamte Branche und die Institutionen bleiben. Den Leuten zu erklären, was für eine wichtige Rolle der Film in unserem Leben spielt und dass nur persönlich vor Ort darüber debattiert werden kann, ist eine grosse Herausforderung. Ich denke, es gibt einerseits Leute, die sind dem Schweizer Film sehr zugewandt und lassen sich von ihm inspirieren, während andere keinen Bezug dazu haben und ihn eher anhand gewisser alter Klischees betrachten. Doch der Schweizer Film wird von allen finanziert und sollte deshalb auch für alle da sein.

 

Wie möchten Sie den Filmexport ins Ausland fördern?

Es gibt vieles, was wir unternehmen könnten. Dieses Jahr starten wir zum Beispiel ein Projekt mit der Plattform Festival Scope. Ab Januar stehen dort alle Filme der Sektionen «Prix de Soleure» und «Opera Prima» Fachleuten der ganzen Welt während eines Jahres zur Verfügung. Zurzeit ist dies nur für das Ausland geplant, denn wir möchten unseren eigenen Markt nicht stören. Mit der Auswahl möchten wir den Filmen die Chance geben, auch anderswo gezeigt und gesehen zu werden.

 

Haben sich mit Ihrem Rollenwechsel vom Besucher zum Organisator auch Ihre Erwartungen an das Festival verändert?

Ich habe das Festival immer aus verschiedenen Perspektiven erlebt: als Journalist, Regisseur und Besucher. Was sich verändert hat, ist meine Verantwortung. Es ist nicht einfach, jemandem mitzuteilen, dass sein Film, an dem er oder sie vier Jahre gearbeitet hat, nicht ausgewählt wurde. Ich fühle mich als Kollege und weiss, was das bedeutet. In Bezug auf die Erwartungen muss ich in jedem Fall die Perspektive eines Zuschauers im weiteren Sinne einnehmen.

Biografie

1982 Geboren in Lugano

1998 Beginn der Zusammenarbeit mit RSI. Zuvor bereits Realisierung mehrerer Kurzfilme, Reportagen und Videoclips

2005 Diplom in Geisteswissenschaften und Philosophie an der Universität Bologna

2009 Master Filmregie und Montage an der ZHdK

2012 Premiere seines ersten Spielfilms «Tutti Giù - Everybody sometimes falls» am Locarno Film Festival

2014 Zusatzausbildung in Drehbuchschreiben in München und Ausbau der Tätigkeit als Regisseur von Dokumentarfilmen, Reportagen und Spielfilmen sowie als Drehbuchautor

2021  Sein zweiter Spielfilm «Atlas» läuft als Eröffnungsfilm in Solothurn und an diversen weiteren Festivals, darunter dem 74. Locarno Film Festival. Wahl zum Direktor der Ticino Film Commission, neben seiner Tätigkeit als Filmemacher

2022  Ernennung zum künstlerischen Leiter der Solothurner Filmtage

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