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«Verwurzelung hat nichts mit Abschottung zu tun»

Das Gespräch führte Chantal Tauxe
21. Juni 2019

Gilles Marchand, Generaldirektor der SRG. © RTS/ Christin Philippe

Angesichts der Konkurrenz durch grosse Streaminganbieter ­erhöht die SRG ihre Mittel für Produktion und Untertitelung.

 

Gilles Marchand, sehen Sie sich Serien auf Netflix an?

Ja. Ich habe gerade die zweite Staffel von «Suburra» begonnen, einer Serie, die Vatikan, Politik und Mafia verbindet. Sie widerspiegelt das, was die politische Klasse Italiens derzeit erlebt. Gute Serien lehren uns viel über die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Realitäten des Landes, in denen sie gemacht und ausgestrahlt werden. Das ist einer der Gründe, weshalb wir mehr Mittel in Serien investieren möchten: um das Leben der Schweiz anders zu erzählen.

 

Wie lange sind Sie schon Netflix-Abonnent?

Zwei Jahre. Ich beobachte die Konkurrenz (lacht), und ich schaue mir nicht nur das an!

 

Als Sie dort die Fülle von Übersetzungen sahen, haben Sie sich da nicht gefragt, ob man in Sachen Übersetzung von Programmen etwas mutiger hätte sein können?

Daran arbeiten wir jetzt gerade. Im Jahr 2020 wird die SRG eine Plattform lancieren, die unsere eigenen Produktionen nicht nur nach Sprachregion, sondern nach Themen und mit einem Untertitelungssystem anbietet. So wird unser Angebot erheblich bereichert. Ich habe mir dieses Projekt in den Kopf gesetzt, seit ich hier in Bern arbeite. Doch ein solches Projekt braucht ein wenig Zeit, bis es konkrete Formen annimmt.

 

Weshalb nicht von Anfang an eine europäische Plattform anstreben?

Die Programmrechte sind das Hindernis. Da haben wir Schweizer dieselben Probleme und Vorteile wie jedes andere Land in Europa. Mit anderen Worten: Wenn ich 100 % der Inhalte produziere, also zu 100 % über die Rechte verfüge, und dann beschliesse, die Produktion mit einem meiner Kollegen des belgischen RTBF auszutauschen, und zwar auf der Grundlage von Inhalten, die auch er oder sie zu 100 % selber produziert hat, dann können wir sie leicht auf dieselbe Plattform bringen. Doch wenn ich «Quartier des banques» mit «La trêve» – zwei mit privaten Koproduzenten hergestellte Serien – anbieten wollte, dann müssten wir alle dieselben strategischen Interessen verfolgen. Private Akteure wollen jedoch ihre Programme in mehreren Gebieten verkaufen. Und hier beginnen die Schwierigkeiten der europäischen Plattformen. Deshalb gibt es heute viele Ankündigungen, aber es wird nur wenig umgesetzt.

 

Was raten Sie den Schweizer Produzentinnen und Produzenten, die sich in diesem komplexen Umfeld bewegen?

Erstens: Die SRG hat die feste Absicht, das Produktionsvolumen und damit die Mittel, die der Branche zur Verfügung stehen, zu erhöhen, um mehr Fiktionen und Serien zu produzieren. Aufgrund der Sprachenvielfalt war es schon immer schwierig, eine eine konsequente nationale Produktion zu betreiben. Doch das kleine Volumen hat Auswirkungen, auch auf die Autorinnen und Autoren: Es ist sehr schwierig, vom Schreiben zu leben. Gleiches gilt für andere freiberuflich Tätige. Mehr Volumen und Qualität zu produzieren, wie die skandinavischen Länder und Belgien, setzt voraus, dass wir mehr Geld in die Fiktion investieren.

Zweitens: Wir möchten unsere Produktionen in den verschiedenen Regionen viel besser organisiert, konsequenter und simultan aufgleisen. Das heisst, wenn wir künftig eine Serie für RTS produzieren, werden wir sie synchronisieren, damit sie sofort auch für RSI und SRF verfügbar ist und umgekehrt. Wir möchten regelmässig Schweizer Spielfilme zeigen, die für die lineare Ausstrahlung synchronisiert und fürs VoD synchronisiert oder untertitelt werden. Ich träume von einem wöchentlichen Sendeplatz, in dem wir Schweizer Spielfilme aus allen Regionen zeigen könnten.

 

Und was ist mit der Frage der Rechte?

Wir werden mit den unabhängigen Produzentinnen und Produzenten zufriedenstellende und innovative Lösungen suchen, damit wir auch fiktionale Inhalte auf unseren digitalen Plattformen anbieten können. Wir werden experimentieren und Erfahrungen sammeln – in Absprache mit der Branche und im Rahmen des Pacte de l’audiovisuel. Ich bin sicher, dass es uns gelingen wird, denn worauf kommt es an? Auf die Abgrenzung. Wie kann man Netflix, Amazon Prime oder Apple bekämpfen? Indem man anbietet, was das Publikum kaum oder nur selten auf internationalen Plattformen oder auf französischen, deutschen und italienischen Sendern finden wird. Wir brauchen Serien, die in der Schweizer Realität verwurzelt sind, die ein hohes Identifikationspotential mit dem bieten, was im Land geschieht. Dieser Ansatz der Verwurzelung hat aber wohlverstanden nichts mit Abschottung zu tun. So haben wir zum Beispiel ein interessantes Projekt einer Fiktion, das den Titel «Krisenzelle» trägt und von den Aktivitäten des IKRK in anderen Ländern handelt. Auch das ist eine Öffnung zur Welt, allerdings von der Schweiz aus. Ich denke, dass diese Strategie im gemeinsamen Interesse von uns wie auch der Branche liegt.

 

Zurück zum Projekt der SRG-Plattform: Was werden Sie mit den Daten zu den Nutzergewohnheiten machen? Werden Sie diese vermarkten?

Heute gibt es unter den öffentlich-rechtlichen Medien drei Doktrinen. Die erste finden wir bei denjenigen, die nichts tun und überhaupt keine Daten erheben. Die zweite, beispielsweise bei RTBF, verlangt von den Nutzerinnen und Nutzern eine Registrierung um die Programme verfolgen zu können. Hier gibt es ein Vermarktungspotenzial, allerdings verpflichtet sich RTBF, seinen Algorithmus einmal jährlich zu veröffentlichen und anzugeben, wie die Daten verwendet wurden. Der dritte Ansatz ist jener der SRG. Wir sammeln – mit der expliziten Zustimmung der Nutzerinnen und Nutzer – nur die Daten, die wir brauchen, um ihnen Programme anbieten zu können, die auf ihren Geschmack zugeschnitten sind. Wir vermarkten diese Daten nicht. Was in fünf oder zehn Jahren sein wird, steht noch in den Sternen. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass wir mit den Verlegern im Gespräch sind betreffend ein Projekt für ein sicheres Login, mit dem jemand, der auf der Plattform eines Verlags registriert ist, auch Zugang zum Programm der SRG hat und umgekehrt. Vorausgesetzt, dass dieses Login für die SRG kostenlos ist und von einer Kommerzialisierung der Daten abgesehen wird.

 

Das Budget der SRG ist limitiert und kann nicht erhöht werden, sodass sie der Konkurrenz von Netflix, aber auch von den GAFA, zu denen die Werbeeinnahmen abfliessen, nicht entgegenwirken kann. Befinden wir uns in einer Verarmungsspirale?

Natürlich, das ist ein grosses Risiko, das grösste überhaupt. Die Lage ist ganz einfach. Wir haben heute eine tiefere Empfangsgebühr, was gegenüber dem Vorjahr einem Nettoverlust von 50 Millionen Franken entspricht. Unsere Gebühreneinnahmen sind eingefroren und können sich nicht mehr parallel zum Bevölkerungswachstum entwickeln. In unserem Finanzierungsmodell kann die TV-Werbung nicht mit den digital verbreiteten Programmen einhergehen. Die Werbeeinnahmen schwinden überdies immer empfindlicher. Heute erreicht der Bruttoumsatz der ausländischen Werbefenster über 300 Millionen Franken. Das ist mehr, als die SRG generieren kann.

Da somit keine Zunahme der Einnahmen möglich ist, besteht unsere Option heute darin, Handlungsspielräume zu schaffen. Also haben wir einen Plan zur Einsparung von 100 Millionen Franken lanciert. Doch es ist heikel, die Effizienz zu erhöhen, wo doch ein Grossteil jener, die uns während der No-Billag-Kampagne unterstützten, dafür kämpfte, dass die SRG unverändert weiterbesteht. Wir dachten uns, dass wir mit einer Kürzung bei den Infrastrukturen, insbesondere im Immobilienbereich, Einsparungen machen und dafür das Programmangebot und die Arbeitsplätze weitgehend erhalten könnten. Doch wir stossen auf starken Widerstand, der mit der starken lokalen Verankerung der SRG in Zusammenhang steht. Der Handlungsspielraum ist sehr klein, während die Herausforderungen enorm sind, wie wir gerade gesehen haben.

Eine davon möchte ich noch erwähnen. Nach dem VoD-Boom folgt nun ein Boom von Audio-on-Demand. Wir werden von der taktilen Inhaltssuche zur Sprachsteuerung übergehen. Der grosse Streit, der sich hinter den Kulissen ankündigt, wird vor allem die Sprachassistenten betreffen: Wer wird die Liste anführen? Welche Antwort werden wir erhalten, wenn wir zum Beispiel «Was passiert in Algerien mit Bouteflika?» eingeben? Der letzte Beitrag von «Forum» oder eine schlecht ins Französische übersetzte  Newskompilation aus dem Silicon Valley? Wir sollten uns darauf vorbereiten. Deshalb ist es entscheidend, über digitale Innovationszentren zu verfügen, wie wir sie mit der EPFL in Lausanne und der ETH in Zürich geschaffen haben. Wir müssen uns bewegen.

▶  Originaltext: Französisch

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