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Queeres Aufbegehren in Kolumbien

Laurine Chiarini
01. November 2022

Jorge Cadena © Camilo Agudelo

Der kolumbianische Regisseur Jorge Cadena hat einen farbenintensiven Film über queere Aktivisten in seinem Heimatland gedreht.

Auf dem Balkon seiner Wohnung in Carouge geniesst Jorge Cadena die Ruhe in der Schweiz, wo die Zeitungen nicht täglich von ermordeten Anführern sozialer Bewegungen berichten. Dem 1985 in Barranquilla, im Norden Kolumbiens, geborenen Regisseur ist der Kontrast zwischen dem Wind der Freiheit, der vom Karibischen Meer her weht, und dem sozialpolitischen Chaos in reger Erinnerung. Seine letzten drei Filme spielen in seinem Herkunftsland, wo er am liebsten zwischen Neujahr und Anfang März dreht, wenn es kühl ist und der Wind bläst: ein Phänomen, das man hören und spüren, aber nicht sehen kann. Jorge Cadena erwähnt den Film «Der Spiegel», für den Tarkowski einen Hubschrauber das Gras bewegen liess.

Nach seiner Erstkommunion – in Kolumbien ein wichtiger Schritt im gesellschaftlichen Leben – wird Jorge Cadena bewusst, dass er homosexuell ist. In einem Land, das noch immer von postkolonialen, heteronormativen Mustern geprägt ist, beginnt er, die vorherrschenden Meinungen zu hinterfragen und zu vermuten, dass die Wahrheit anderswo liegt. Um diesen Weg der Emanzipation geht es auch in seinem Bachelor-Diplomfilm «El cuento de Antonia», der 2017 am Filmfestival von Rotterdam gezeigt wurde. Der Film, den Cadena gedrängt vom Kampf gegen die Ungleichheiten seiner Welt drehte, wurde mit dem Tiger Award ausgezeichnet. Zwei Jahre später lief sein Master-Film «Soeurs Jarariju» an der Berlinale 2019 und erhielt eine Lobende Erwähnung.

Jorge Cadena unterstützt den ersten fortschrittlichen Präsidenten Kolumbiens, Gustavo Petro. Dieser spricht in einer Präsidialrede zum ersten Mal explizit Homosexuelle an, auch Indigene, Transsexuelle und die afrikanisch-stämmige Bevölkerung. Bis anhin wurden alle Entscheidungen von und für weisse Hetero-Männer getroffen. Cadena meint, die Situation sei in der Schweiz kaum anders. Er setzt sich ein dafür, dass Minderheiten mehr Raum erhalten, für eine Öffnung des gesellschaftlichen Diskurses. Für ihn ist es absolut kein Widerspruch, als Homosexueller zugleich für seine eigenen Rechte, für jene der Indigenen und für die Umwelt zu kämpfen.

 

Extravagant, queer, aktivistisch

Nach einem Fotografie- und Filmstudium in Argentinien kommt Jorge Cadena 2011 in die Schweiz, um Französisch zu lernen. Er will eigentlich nur ein Jahr bleiben, ändert aber seine Pläne nach einer Begegnung mit Studierenden der HEAD in Genf. Der individuelle kinematografische Ansatz der Schule, wo jede:r Studierende eine eigene Position finden muss, gefällt ihm. Er möchte sich nicht an filmischen Formeln, sondern an einem engagierteren Kino orientieren. Im zweiten Studienjahr dreht er in Georgien den Dokumentarfilm «Les trois hirondelles», der als einziger seiner Filme ausschliesslich in Innenräumen spielt. Anstatt Landschaften zu zeigen, will er die Geschichte des Landes anhand des Lebens seiner Bewohner:innen erzählen.

Seinen neusten Film «Flores del otro Patio», der an den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur gezeigt wird, schrieb er zusammen mit seiner Schwester, die Soziologin ist und ihn bei den Recherchen unterstützte. Während der Vorbereitungen zum Langfilm-Projekt kamen die beiden auf die Idee, daraus einen Kurzfilm zu machen. «Flores del otro Patio» konnte dank einer Crowdfunding-Kampagne realisiert werden und erzählt die Geschichte einer Gruppe von Queer-Aktivist:innen, die ihre Extravaganz nutzen, um mit performativen Aktionen Greenwashing und die katastrophale Ausbeutung der grössten Kohlemine Kolumbiens anzuprangern. Der farbenintensive Film, der mit Laiendarsteller:innen und Profi-Schauspieler:innen – unter ihnen der an der Manufacture in Lausanne ausgebildete Leon David Salazar – gedreht wurde und trotz seiner ernsten Thematik auch fröhliche Passagen beinhaltet, verleiht allen direkt Betroffenen eine Stimme.

Nun schreibt Jorge Cadena wieder an seinem ersten Langfilm, mit dem er seine extravagante queere Reise durch die Karibik fortsetzen wird. Damit sollen die politischen Kämpfe, die Reise zur Kohlemine und die indigene Gemeinschaft der Wayuu zueinander in Beziehung gesetzt werden.

 

Originaltext Französisch

Internationale Kurzfilmtage Winterthur

«Flores del otro Patio»:

11. Nov, 19:30 (Maxx 6), 12. Nov, 20:00 (Maxx 1), 13. Nov, 11:00 (Kino Cameo)

www.kurzfilmtage.ch

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