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Ein aufsteigendes Schweizer Sternchen

Teresa Vena
15. März 2023

Kayije Kagame in « Saint Omer » ©Cineworx

Die Genfer Schauspielerin Kayije Kagame war eine der European Shooting Stars der diesjährigen Berlinale. Swiss Films kann jährlich Kandidaten und Kandidatinnen nominieren. Kagame repräsentierte die Schweiz in Berlin. Sie erhält aber auch darüber hinaus viel Aufmerksamkeit seit ihrer Rolle in «Saint Omer» der französischen Regisseurin Alice Diop. Das Interview.

«Es zeigt, dass Begegnungen mit grossartigen Menschen möglich sind, auch wenn man nicht in Paris lebt», sagt Kagame keck, wenn man sie fragt, ob sie nach ihrem aktuellen Erfolg vielleicht darüber nachdenkt, in die Grossstadt zu ziehen. 

Nach seiner Weltpremiere am Festival in Venedig, reiste «Saint Omer» international weiter, war Frankreichs Oscars-Einreichung in der Kategorie bester ausländischer Film und bringt nun seinen Hauptdarstellerinnen gleich mehrere Auszeichnungen. In der Rolle der Rama ist die junge Schweizer Schauspielerin Kayije Kagame zu sehen. Sie ist bei der Berlinale als eines der European Shooting Stars eingeladen und beim französischen Filmpreis, der Césars, als Révélation, als Nachwuchstalent nominiert. Auf der Bühne steht sie aber schon seit vielen Jahren für Grössen wie Robert Wilson, aber in eigenen Stücken. Kagame übernimmt in «Saint-Omer» ihre erste wichtige Rolle in einem Film. 

 

Als Sie die Rolle annahmen, erwarteten Sie, dass der Film eine so grosse Wirkung haben würde?

Als ich das Drehbuch las, war ich zunächst von seiner Qualität überwältigt. Die Rolle ist komplex, tiefgründig. Der Stoff hat mich berührt. Ich las das Drehbuch wie einen Roman. Er versprach etwas Starkes, das der Film schliesslich einlöste. Noch dachte ich aber nicht, an seine Veröffentlichung und was daraus werden würde. 

 

Wie kam es zu der Begegnung mit Alice Diop? 

Ich habe sie zufällig getroffen. Es war 2018 im Kino Spoutnik, einem Programmkino in der Usine in Genf, aus Anlass einer Retrospektive von Alices Filmen. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Und schon damals erzählte sie mir von einem Projekt, an dem wir zusammenarbeiten sollten. So begann das Abenteuer mit «Saint-Omer» im Spoutnik in Genf. Es zeigt, dass Begegnungen mit grossartigen Menschen möglich sind, auch wenn man nicht in Paris lebt.

 

Und jetzt reisen Sie mit dem Film durch die Welt. 

Ja, das ist schön. 

 

Aber Sie haben trotzdem nicht vor, umzuziehen? 

Ich werde oft gefragt, wieso ich nicht in Paris lebe. Da entgegne ich, dass ich hier in Genf meine Theatertruppe habe. Ich habe das Glück, dass mich die Stadt unterstützt, was mir meine Freiheiten ermöglicht. Der Beruf des Schauspielers ist ein wunderbarer Beruf, aber ich bin ziemlich anspruchsvoll. Mir wurde schnell klar, dass ich als schwarze Frau vermutlich länger auf eine interessante Rolle warten werden müsse. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, diese Rollen selbst zu kreieren, um damit meine künstlerische und berufliche Freiheit zu finden. Es gibt in Genf viele talentierte Künstler und Künstlerinnen und der Austausch mit ihnen ist sehr schön. Natürlich bin ich sehr viel auch in Paris unterwegs. Aber zurzeit fühle ich mich wohl in Genf. 

 

Haben Sie Persönliches in der Figur wiedergefunden? 

Ich glaube, die Figur richtet sich an alle Frauen und ist in der Lage, jeden zu berühren, egal ob Mann oder Frau, ob alt oder jung. Wir alle stellen uns irgendwann in unserem Leben Fragen über unsere Herkunft und über das Erbe unserer Eltern. Der Film ermöglicht verschiedene Zugänge. 

 

Die Rolle, die Sie in dem Film spielen, ist eine Frau, die eine schwierige Beziehung zu ihrer Familie hat. Wie sind Sie an das Thema herangegangen? 

Die Figur von Rama hat ein Problem mit ihrer Mutter. Es ist so tiefgreifend, dass es ihre verunmöglicht, an ihre eigene Mutterschaft zu denken. Für mich war das eine schwierige Vorbereitung, weil ich die Liebe meiner Mutter erhalten habe. Die Mutter im Film ist eine Frau, die am Exil zerbrochen ist. Und da meine Eltern in die Schweiz geflohen sind und ebenfalls mit der Frage des Exils kämpfen mussten, hat mir das erlaubt, die Komplexität von Ramas Figur zu verstehen. Einer Frau, die in Frankreich geboren wurde und die Stigmata des Exils ihrer Eltern geerbt hat. 

 

Welche waren die schönsten Reaktionen des Publikums zum Film? 

Die Menschen sind immer sehr gerührt. Sie erleben einen starken Moment und brauchen in der Regel eine gewisse Zeit, um sich zu erholen. Einmal stellte keiner aus dem Publikum eine Frage. Der Saal war ganz still, plötzlich erhoben sich die Menschen und klatschten. Es ist ein Film, der eine gewisse Verdauung erfordert.

 

Lesen Sie die Kritiken und Beiträge, die zum Film erscheinen? 

Ich habe ein bisschen gelesen. Aber es war eher mein Bruder, der alles gelesen hat. Der alles sammelt und stolz auf den Erfolg des Films ist.

 

Sie haben mit dem Theater begonnen, Sie verbinden das Medium des Theaters mit dem des Films in Ihren eigenen Arbeiten regelmässig. «Saint-Omer» ist wiederum ein Film, in dem die Theater als Erzählform eine wichtige Rolle spielt. Dieser Aspekt hat Sie vermutlich ebenso am Projekt von Alice Diop interessiert.

Das Erstaunliche an diesem Film war, dass er viele Referenzen enthielt, die ich teile. Interessanterweise sind die Autoren und Filme, die Alice zitiert, solche, die sich durch mein ganzes Leben ziehen. Ich wurde vom Soundtrack aus «Hiroshima mon amour» in den Schlaf gewiegt. Ich erinnere mich an Maria Callas in Pasolinis Film. Medea ist eine Rolle, die man in der Schauspielschule lernt. Ich habe sie auch durchlaufen. Ausserdem ist Valérie Dréville, die die Richterin spielt, eine sehr bekannte Theaterschauspielerin in Frankreich. Sie hat mit ihrer Darstellung der Medea von Heiner Müller in der Inszenierung von Anatoli-Wassiljew einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Es war die Erfüllung eines Traums, sie, wie auch Guslagie Malanda, die die zweite Hauptrolle hat, spielen zu sehen. Ich war gleichzeitig Schauspielerin und Zuschauerin im Theater. Das war ein grosser Moment bei den Dreharbeiten.

 

Das Theater scheint weiterhin die treibende Kraft Ihrer Arbeit zu bleiben. Ihr neues Projekt ist wieder eine Mischung zwischen Film und Theater. 

Ja, ganz genau. Ich habe beim Theater angefangen, weil meine erste Ausbildung an einer Theaterschule war. Danach habe ich den US-amerikanischen Regisseur Robert Wilson kennengelernt, der Theater macht, aber auch immer einen Fuss in der Bildenden Kunst hat. Das hat mir gezeigt, dass man Kunst machen kann, ohne sich Grenzen in Bezug auf das Medium zu setzen. Ich hatte immer eine Vorliebe dafür, die Künste miteinander in den Austausch zu bringen. Für das aktuelle Projekt mit dem Filmmacher Hugo Radi aus Genf ist wieder ein Dialog zwischen Film und Theater entstanden. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für die Künste im weitesten Sinne des Wortes. Aber es ist auch eine Menge Arbeit, alles zu integrieren. Das nächste Mal werde ich versuchen, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Ich bin zu gierig. (lacht) Aber es ist auch die Gelegenheit, mit grossartigen Menschen zu arbeiten. Hier gibt es viele talentierte Künstler, mit denen ich gerne zusammenarbeite.

 

Sie sagten, dass Sie sich Ihre eigenen Rollen schreiben, um einem Mangel an richtigen Angeboten vorzubeugen. Der Schweizer Film ist weiterhin wenig divers, wenn es um das Abbilden der tatsächlichen gesellschaftlichen Realität geht.

In meinem Leben und in meiner Arbeit beteilige ich mich nur an Projekten, die mir helfen, meine Sicht auf die Welt zu vertiefen. Und ich bin eine Frau mit schwarzer Hautfarbe in der Schweiz. Es gibt viele Leute, die mich auf der Strasse sehen und sich nicht vorstellen können, dass ich Schweizerin bin. Das ist etwas, das uns, Menschen mit anderer Hauptfarbe, immer an einen anderen Ort, woanders hin, verweist. Doch wir sind hier, wir zahlen hier Steuern, wir machen hier Kunst. Natürlich stammen meine Eltern aus Ruanda, und ich habe auch einen Bezug zu Ruanda. Doch das ändert nichts daran, dass ich hier geboren bin, und dass dies auch mein Zuhause ist. 

 

Also besteht auch über die Kunst hinaus noch Nachholbedarf?

Wenn Sie mir die Frage stellen, heisst es, dass sie das selbst schon so wahrnehmen. Junge Künstler und Regisseurinnen machen sich an die Arbeit. Es ist aber auch wichtig, dass wir in den Fördergremien und an der Spitze von Festivals präsent sind, dass wir Zugang zu den Orten der Entscheidung und der Macht haben, damit sich die Dinge wirklich ändern. Es sollte ein repräsentativeres Abbild unserer Gesellschaft geben.

 

Kayije Kagame

Kayije Kagame ist 1987 in Genf geboren, wo sie noch immer lebt und arbeitet. In Genf hat sie nach ihrer Ausbildung als Schauspielerin am Konservatorium in Genf und an der Kunsthochschule (ENSATT) in Lyon ihre eigene Theatergruppe gegründet. Als Darstellerin war Kagame in mehreren Theaterinszenierungen von Robert Wilson zu sehen. Sie hat in verschiedenen Kurzfilmen mitgespielt, bevor sie die Hauptrolle in «Saint-Omer» von Alice Diop übernahm. Ihr Hybridprojekt zwischen Theater und Film, in Zusammenarbeit mit dem Genfer Filmemacher Hugo Radi «L'Intérieur nuit / Intérieur vie» wird im März seine Premiere feiern. Vom 7. bis 12. März wird es im Arsenic in Lausanne und vom 23. März bis 3. April im T2G, Théâtre de Gennevilliers, in Paris, zu sehen sein. 

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