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Porträtieren ist Erzählen. Erzählen ist Porträtieren

Martin Walder
27. März 2019

Claude Goretta bei den Dreharbeiten zu «Un dimanche de mai». © Cinémathèque suisse

Fast 90 ist Claude Goretta geworden – der vielleicht vielseitigste Filmer seiner Generation.

Mit «L’invitation» hatte es 1973 angefangen: meine erste lange Filmkritik als NZZ-Jungredaktor. Das Genfer Dreigestirn Tanner – Soutter – Goretta war schon eine Weile in aller Munde. Claude Gorettas Art zu sehen entsprach mir am meisten; die Zuneigung ist geblieben.

Die Sittenkomödie «L’invitation» also: sommerlich leicht, besinnlich und burlesk. Da blickte einer mit Empathie auf seine Figuren, ein wenig unbarmherzig auch, aber nicht verurteilend. Goretta wusste genau, was Ökonomie, das Soziale und die Sehnsucht mit uns anstellen. Mit dem ihm eigenen Schalk gegenüber den Genfer Freunden definierte er sich weder als Essayist wie Tanner noch als Poet wie Soutter: «Moi, je suis un cinéaste-cinéaste. C’est déjà pas mal!» Beobachtend wollte er erzählen, was ihm in den Menschen begegnete: immer wieder eine leise Verrücktheit. Für die Sorgfalt, mit der er das tat, ist er in seinen acht Kinofilmen von «Le fou» bis «Si le soleil ne revenait pas» berühmt geworden.

Film als Begegnung; so plakativ hätte er es sich nicht auf die Fahne geschrieben. Aber Goretta hat es ab 1956 (nach der Free-Cinema-Erfahrung in London) von seinen Reportagen für die TSR bis eben zu den Kinofilmen und den späteren Arbeiten für den französischen ORTF gelebt. In die Wiege gelegt worden war es ihm, am 23. Juni 1929 in Carouge geboren, nicht. Bei seinen bürgerlich etablierten Eltern hatte er eine Neugier auf das Leben «des Anderen», auf die «rencontre» mit dem Fremden vermisst. Claude und seinen Bruder Jean-Pierre (wie er zu Zeiten eine Reporter-Legende bei der TSR) trieb es hinaus in die Welt.

 

Von Kanada bis in Neapels Katakomben

In den 1960er Jahren kann er sich in der Flagschiffsendung «Continents sans visa» in einem Team Verschworener erproben: in Reportagen von Feuerland bis in die sowjetische Kolchose und von Kanada bis in Neapels Katakomben. Oder vor der Haustür, als die spanischen Saisonniers mit Heimweh im Koffer in der Gare Cornavin ankommen. Wichtiges Detail: In den TSR-Equipen ist man zu viert und nicht wie in der Deutschschweiz zu dritt: Filmemacher und Journalist sind da zwei Funktionen – Nicolas Bouvier hat die Hierarchie hübsch als eine von König zu Prinzgemahl definiert.

Was Goretta erlebt, drängt ihn von der sozialen Reportage hin zum Porträtieren, er will das Gesicht des Fremden vis-à-vis «lesen» lernen. In Genf wie auch für den ORTF, wo man auf ihn aufmerksam geworden ist, realisiert er bald auch längere Filme: über einen Bankangestellten, eine sechsfache Mutter in der Pariser Banlieue, eine Fischersfrau in der Bretagne, einen Lourdes-Pilger. Und er entdeckt: «Im Porträt steckt immer eine Erzählung».

Aber im Porträt steckt für den Filmemacher immer auch ein Risiko: Wie sich positionieren zwischen Nähe und Distanz, zwischen warmem Herz und kühlem Blick? Goretta machte es zu schaffen, als er bei «Micheline, six enfants, allée des Jonquilles» gewahr wurde, gewisse rassistische Äusserungen der Frau im Film zu unterschlagen, also ehrenwert zu mogeln. Eine doppelte Vertrauensfrage stellte sich – den Gefilmten und sich selbst gegenüber. In der praktisch unbekannten Semi-Fiction «Le temps d’un portrait» mit dem Chansonnier Julien Clerc ist 1971 genau dies Thema. Es ist Gorettas persönlichster, intimster Film.

Die Skrupel, so Goretta, hätten ihn damals bewogen, sich hauptsächlich der Fiktion zuzuwenden. Allerdings hatte er da längst unzählige TV-Theateradaptationen, sogenannte «Dramatiques», und früh auch TV-Filme wie den hervorragenden «Jean-Luc persécuté» im Gepäck. Goretta drängte es schlicht zum Erzählen. Vor allem in literarischen Vorlagen fand er seinen Blick auf die Menschen wieder: mehrmals beim Arzt-Autor Tschechow oder bei Simenon, dem Alltagschronisten unserer Abgründe. Und er entdeckte Schauspieler mit der Sensibilität dafür: Isabelle Huppert und Gérard Depardieu, neben François Simon, Maurice Garrel, Dominique Labourier, Gian Maria Volonté, Philippe Léotard oder dem famosen Maigret Bruno Cremer ...

Nach «Sartre, l’âge des passions» (2007) wollte er noch erkunden, was nach vierzig Jahren aus Micheline und ihrer Familie geworden war. Das Unternehmen stand unter einem schlechten Stern; auch lädierte sich Goretta beim Geräteschleppen schon nach einem Tag den Rücken so, dass es ihn für immer in den Rollstuhl zwang. Ungebrochen waren seine Neugier und ein feiner Humor, wenn ich ihn in seiner engen Genfer Dachwohnung über der Arve besuchte.

 

Martin Walder ist Autor der Monografie «Claude Goretta. Der empathische Blick», ­Edition Filmbulletin, Schüren Verlag, Marburg 2017.

 

▶  Originaltext: Deutsch

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