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«Ich bin cinephil, aber kein Snob»

Pascaline Sordet
22. Juli 2021

Giona A. Nazzaro, Locarno 2021. © Locarno Film Festival / TiPress

Der neue künstlerische Direktor des Filmfestivals von Locarno, Giona A. Nazzaro, hat mit all seinen VorgängerInnen der letzten zwanzig Jahre zusammengearbeitet. Wie er die Veranstaltung weiterentwickeln will, wie er die Rolle der Piazza Grande definiert und wie seinen Filmgeschmack. 

 

Wie positionieren Sie sich in Bezug auf die früheren LeiterInnen des Festivals?

Frédéric Maire hat mich nach Locarno geholt, um die deutschsprachigen Filme zu betreuen, Olivier Père hat mich in dieser Rolle bestätigt, und mit Carlo Chatrian habe ich zusammengearbeitet – wir sind in Sachen Film zusammen gross geworden. Auch mit Lili Hinstin habe ich gearbeitet und genau beobachtet, wie alles ablief. Irgendwo im Hinterkopf machte ich mir ständig Notizen. Locarno ist das einzige Festival, das ich mir vorstellen konnte zu leiten. Ich glaube daran, dass jede künstlerische Leiterin und jeder künstlerische Leiter eine eigene Handschrift haben muss. Vielleicht ist diese auch eine Spiegelung der Politik der Autorinnen und Autoren? Deshalb versuche ich, unter Respekt der Arbeit meiner VorgängerInnen Neuerungen vorzunehmen, denn wenn man diese Aufgabe annimmt, muss man auch den Mut zur Innovation haben. Das Festival ist heute ein anderes als 2016 oder 2017, und dies nicht nur wegen der Pandemie. Es ist, als wären seither 20 Jahre verstrichen. Die Branche hat sich gewandelt und an Tempo gewonnen.

 

Sie sagten, Ihr erklärtes Ziel sei es, «die Position von Locarno innerhalb der Filmindustrie immer mehr zu stärken». Wie wollen Sie das erreichen?

Ich arbeite eng mit Markus Duffner, dem neuen Leiter von Locarno Pro, zusammen. Wie Sie wissen, haben wir keinen Markt wie Cannes oder Berlin, und ein solcher würde bei uns auch keinen Sinn machen. Folglich müssen wir Locarno den Fachleuten als einen Ort präsentieren, an dem sie Geschäfte machen können, im besten Sinne des Wortes. Sie müssen wissen, dass sie dort Filme kaufen, gute Voraussetzungen für internationale Koproduktionen schaffen oder Partner finden können. Dazu müssen wir vom Image des reinen Zuschauer-Festivals wegkommen und uns als Akteur positionieren. Das mag nach einer Wunschvorstellung klingen, doch wir beschäftigen uns intensiv mit dieser Idee.

 

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Dank Neuerungen in der digitalen Infrastruktur wie Heritage Online erreichen wir das Publikum auch über den Ort und die Dauer des Festivals hinaus. Wir wollen Locarno zu einem permanenten Hub der Filmindustrie machen. Das ist kein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit. Das Festival kann nicht nur elf Tage lang auf den Tessiner Leinwänden existieren. Ich lebe im und für das Festival und träume davon, es das ganze Jahr andauern zu lassen.

 

Haben Sie denn nun Ihre Wohnung in Locarno, die Ihnen so wichtig war, gefunden?

Ja, aber wegen der Quarantäne und den Lockdowns konnte ich sie erst am 1. Juli übernehmen. Es geht dabei nicht etwa um Diplomatie. Das Festival ist im Leben des Tessins verankert, diese lokale Dimension prägt international seinen Ruf. Deshalb muss sie gelebt, behütet und geschätzt werden. Hier zu leben ist wichtig für mich, um nahe bei den Leuten zu sein.

 

Die Piazza Grande spielt seit jeher sowohl in filmischer, als auch in finanzieller Hinsicht eine wichtige Rolle  – insbesondere für die Sponsoren. Wie gehen Sie damit um?

Das ist ganz einfach: Ich habe Filme ausgewählt, die mir gefallen. Mein Filmgeschmack ist sehr vielseitig und reicht von links aussen mit Straub-Huillet bis zu den schlimmsten Klamotten des italienischen Genre-Kinos. Ich bin cinephil, aber kein Snob. «The Terminator», «Heat» und «National Lampool’s Animal House» haben wir ausgewählt, weil es einfach Freude macht, diese Filme unter optimalen Bedingungen wiederzusehen. Ich bin ein leidenschaftlicher Blu-ray- und DVD-Sammler, doch Klassiker auf der Piazza zu sehen ist ein ganz anderes Erlebnis. Ich war jedoch nie der Meinung, dass wir kommerzielle Filme brauchen, um die Piazza vom Wettbewerbsprogramm abzuheben. Die Piazza ist eine Feier zu Ehren des Films, ein einmaliges Gemeinschaftserlebnis, an dem gemeinsam gelacht und geweint wird. Ich hoffe, die Reihen werden voll besetzt sein.

 

Wodurch zeichnet sich Ihre Filmauswahl für die Wettbewerbe aus?

Ich will in erster Linie Filmschaffende vorstellen, die mir gefallen und deren Arbeit ich zutiefst schätze. Bei der Auswahl haben wir vor allem auf Freude und Überraschung gesetzt. Wir haben uns nie gelangweilt und haben keinen Film gewählt, nur weil er dem entspricht, was man in einem Wettbewerb erwarten würde. So zeigen wir einen hinreissenden chinesischen Film, der Chinas Geschichte auf politisch und ästhetisch sehr interessante Weise erzählt, aber auch drei Komödien. Weshalb sollte in einem Wettbewerb nicht gelacht werden? Ich wollte einen Wettbewerb, wie man ihn noch nie gesehen hat, zum Beispiel mit dem Erstlingswerk eines Fussballers der isländischen Nationalmannschaft. Auch renommierte Regisseure schenken uns ihr Vertrauen: Bertrand Mandicos «Les garçons sauvages», der zu einem Vorzeigewerk des französischen Films wurde, habe ich an der Kritikerwoche in Venedig gezeigt. Abel Ferrara, den ich seit Beginn seiner Karriere verfolge, kam mit seinem neuen Film zu mir und war sofort bereit, ihn zu geben. Diese Kontinuität in der Perspektive, der Arbeit und der Freundschaft ist wichtig. Jemand, der sich den ganzen Wettbewerb ansieht, wird vielleicht nicht jeden Film mögen, doch keiner der Filme gleicht dem anderen.

 

Als Neuerung haben Sie unter anderem eine Wettbewerbssektion für Kurzfilme von etablierten Filmschaffenden eingeführt. Wie entstand Corti d’autore?

Es gibt an jedem Festival einen Kurzfilm eines bekannten Regisseurs oder einer bekannten Regisseurin, den man nirgends unterbringen kann, ausser vielleicht als Vorprogramm. Wir wollten diese Werke in die Spannung eines Wettbewerbs einbinden. Zudem soll es die Talente der Pardi di domani anspornen: Ihr steht noch am Anfang, doch morgen könnt ihr zu den Meistern gehören.

 

Wie stehen Sie zum Kurzfilm? Betrachten Sie ihn als Übung? Oder als Visitenkarte?

Das Festival ist kein Spielplatz. Wir haben versucht, Regisseurinnen und Regisseure auszuwählen, die Zukunftsambitionen haben. À propos Kurzfilme: Es gibt eine neue Generation, die ihre Filme an Orten vorstellt, wo man sie kaum erwarten würde, zumal in den sozialen Netzwerken. Ich will den Dialog suchen mit diesen Leuten, die keine Filmschule besuchen und Godard oder Rivette vielleicht nicht kennen, die aber auf ihrem Computer oder Smartphone ständig Neues kreieren. Ich weiss nicht, ob das die Zukunft des Films ist, doch ich muss verstehen, was hier geschieht, um nicht in der Vergangenheit hängenzubleiben.

 

Was interessiert Sie an diesen neuen Formaten?

Die ungewohnten Ansätze. Ein Bild ist ein Bild, worauf es ankommt, ist der Blick, der filmische Standpunkt. Paradoxerweise gibt es überall Bilder, aber kaum den filmischen Blick. Wo ein solcher sichtbar wird, zum Beispiel in kleinen Videos auf sozialen Netzwerken, da hat er eine starke Wirkung. Die Instagram-Liveübertragung von Lionel Baier mit Godard war so ein Geniestreich: ein grosser Kinomoment in einem Umfeld, in dem man ihn nie erwartet hätte.

 

Was halten Sie vom Schweizer Film?

Wie auch in Italien geben sich neue Autor­Innen in der Schweiz bewusst Mühe, nicht nur schweizerisch zu sein, sondern mit dem internationalen Film in Dialog zu treten. Filme zu machen, die zu ihrer Schweizer Identität stehen, ohne Minderwertigkeitskomplexe und im Zeichen der Emanzipation. Gerade dank der eigenen Identität strahlen diese Filme etwas Besonderes aus. «Soul of a Beast» von Lorenz Merz ist ein apokalyptischer Film, der einen Bruch in der Schweizer Gesellschaft zeichnet. «Wet Sand» der Georgierin Elene Naveriani stellt der patriarchalischen Gesellschaft ihres Heimatlandes präzise Fragen und konfrontiert sich mit dem Erbe eines Filmemachers wie Otar Iosseliani. Der Kurzfilm von Cyril Schäublin besticht durch seine herausragende ästhetische Intelligenz. Wir präsentieren in Locarno fünf Schweizer Langfilme und hätten noch weitere zeigen können, wenn sie nicht nach Berlin gegangen wären, wie «Azor» von Andreas Fontana oder «Das Mädchen und die Spinne» von Silvan und Ramon Zürcher – denn Carlo Chatrian hat einen ausgezeichneten Geschmack. Ich hoffe, dass diese Dynamik anhält und die SchweizerInnen sie nutzen können, um die Entdeckungsreise fortzusetzen. Ich bin wirklich stolz darauf, in dieser Zeit voller positiver Energie in Locarno arbeiten zu können.

 

▶  Originaltext: Französisch

Giona A. Nazzaro

Bevor er die Leitung des Locarno Film Festival übernahm, war der in Zürich geborene Italiener Giona A. Nazzaro Leiter der Kritikerwoche des Filmfestivals Venedig. Als Programmer war er für das Locarno Film Festival, das Torino Cinema Giovani, das Festival dei Popoli, die internationalen Filmfestivals von Rom und Rotterdam sowie für Visions du Réel tätig, wo er von 2010 bis 2020 die Auswahlkommission leitete.

Als unabhängiger Journalist arbeitet er mit Il Manifesto, Film Tv und Micromega zusammen und gründete die monatliche Filmzeitschrift Sentieri selvaggi. Ausserdem hat er mehrere Werke zu Themen herausgegeben, die so vielseitig sind wie sein Filmgeschmack: Gus Van Sant, Spike Lee und Abel Ferrara, das Hong-Kong-Kino oder Actionfilme. 2010 versuchte er sich mit der Novellensammlung «A Mon Dragone c’è il Diavolo» als Romancier. Giona A. Nazzaro ist Mitglied der Eidgenössischen Filmkommission EFiK.

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