MENU Schliessen

Filmen im Widerstand

Adrien Kuenzy
31. Mai 2022

Artem Iurchenko © Nikita Thévoz

Bei Visions du Réel diskutierten ukrainische Filmschaffende ihre Beziehung zum Film in Zeiten des Krieges an einem virtuellen Runden Tisch. Ein Treffen mit dem Regisseur Artem Iurchenko, der zwischen zwei Reisen in Nyon Station machte.

«Die Kamera ist eine Waffe in Friedens- und in Kriegszeiten», sagt der ukrainische Regisseur Artem Iurchenko während der Debatte «Filming in resistance» in Nyon. Das virtuelle Panel über Status und Verantwortung von Künstlern angesichts der täglichen Bombardements liess in der Runde Zweifel an Sinn und Rolle des Kinos insgesamt aufkommen. Die Erregung war allen anzumerken.

Beim persönlichen Gespräch danach legt Artem Iurchenko immer wieder bedeutungsvolle Pausen ein. Der 34jährige Filmemacher, dessen Film «Les Jours Maudits» 2018 in Nyon vorgestellt wurde, hat sich zu einem Blitzbesuch entschlossen, nachdem er zuvor in Paris Verteidigungswaffen geholt hat, die er nach Medyka, einem polnischen Ort an der ukrainischen Grenze, bringen möchte. «Ich bin nach Frankreich gekommen, weil uns daheim in unserem Land das Material ausgeht», erklärt der Filmemacher. «Die Geräte, um die es geht, verhelfen zu einer besseren Sicht bei Nacht. Bei der Gelegenheit habe ich auch einem Mathematiklehrer, der geflohen ist und gerade Prüfungen für seine Schüler vorbereitet, einen Computer nach Lausanne gebracht.»

 

Auf Sinnsuche

Artem Iurchenko, der zwischen Paris und Kiew pendelt, wird die Erinnerung an die Nacht vom 23. auf den 24. Februar nicht los. Er war gerade in Frankreich, «die Nachrichten haben mich aus dem Schlaf gerissen, gleich am nächsten Tag habe ich mich auf den Weg gemacht. Bei meiner Ankunft in Medyka traf ich auf eine ukrainische Familie, die nach Warschau wollte. Ich spürte, was da gerade losbrach, dass ich für etwas gebraucht wurde, das gab mir immense Kraft. Noch immer mache ich mich nützlich, wo ich kann.»

Schon 2014, während der gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Maidan-Platz in Kiew, hatte der Regisseur sein Filmstudium in Lussas in der Ardèche unterbrochen und war hingereist. «Mein erster Reflex war, Teil der Revolution zu werden und sie zugleich zu filmen. Dann sah ich Hunderte von Kameras in der Menge um mich herum und spürte, dass ich fehl am Platz war.» Er packt seine Ausrüstung zusammen und besucht seinen ehemaligen, auch in der Hauptstadt lebenden Lithografielehrer Wladimir Ivanov-Akhmetov. Er macht Aufnahmen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass aus dem Treffen der Film «Les Jours Maudits» entstehen wird. «Unsere Gespräche waren das Medium, durch das ich die politischen Umwälzungen erlebt habe, während im Hintergrund Radio- und Fernsehgeräusche liefen. Erst aus dieser intimen Situation heraus war es mir möglich, die menschliche Gewalt um mich herum anders zu erleben.»

Auch bei den Dreharbeiten zu seinem neuen Film vermeidet Artem Iurchenko die direkte Konfrontation mit dem in der Ukraine tobenden Krieg. «Das Chaos lauert natürlich ständig im Hintergrund, aber ich möchte die Gewaltbilder, die in den Medien sehr präsent sind, nicht in meine Erzählung einbeziehen, selbst da nicht, wo sie dem besseren Verständnis der Lage dienen. Der Sinn liegt für mich in der inneren Bewegung meiner Figuren.»

Übrigens fiel der Entschluss, sich Zeit für eine fiktive Verarbeitung des Geschehens zu nehmen, die nur das Wesentliche zeigt, als Artem Iurchenkow gerade Elie Grappe bei der Entstehung von «Olga» assistierte. «Als der Krieg in der Ukraine losging, habe ich meine Kamera bloss vor wunderschönen Landschaften eingeschaltet. Ich spüre inzwischen eine neue Form der Verantwortung: nur das festzuhalten, was mir wirklich wichtig ist.» Den Fischreiher am Strassenrand etwa, oder einen Zugvogel, der im Frühjahr in der Ukraine landet. «Er schlief. Als er aufwachte, hatte ich das Gefühl, ihn tanzen zu sehen. Ich war wie festgenagelt. Der Moment schien so weit weg vom Krieg, und doch so bedeutsam. »

Viel konkreter äussert sich der Regisseur nicht zu seinem neuen Film, die Grundstruktur jedoch steht fest. «Ich erzähle vom Leben in Kiew, wie ich und zwei andere Künstler es erleben, während der Krieg alles durchdringt. Bevor die Katastrophe über uns hereinbrach, war es tabu für mich, selbst vor die Kamera zu treten. Heute kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie die Geschichte aussehen könnte ohne dass ich mich selber in den Film einbrächte.» 

Und er fügt an: «Jenseits des Schreckens gibt jeder Krieg auch etwas: die Chance, sich selber in Frage zu stellen, neue Freundschaften zu schliessen, manchmal sogar Liebe zu finden.»  

 

Originaltext Französisch

 

Interessieren Sie sich für den Schweizer Film?

Abonnieren Sie!

Tarife