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Aktivismus an Festivals

Von Laurine Chiarini
21. Juli 2022

Demonstration gegen sexuelle Gewalt in Montréal, Juli 2020. © Melodie des coubes / unsplash

Seit dem Aufkommen der #metoo-Bewegung 2017 wird auch auf Festivals zunehmend lautstark protestiert. Diese tun gut daran, sich den aktuellen Diskursen zu öffnen.

Während des 75. Filmfestivals von Cannes 2022 ging das Bild um die Welt: schwarzgewandete Aktivistinnen eines feministischen Kollektivs hatten unmittelbar vor der Vorführung von «Holy Spider», dem Film des Iraners Ali Abbasi, ein Transparent mit den Namen von 129 ­Femizid-Opfern aus dem vergangenen Jahr entrollt. Der Paukenschlag war zugleich ein Echo auf den Doku­mentarfilm «Riposte Feministe» von Marie Perennès und Simon Depardon, der kurz darauf gezeigt wurde. Der Vater des Co-Regisseurs, der französische Filmemacher und Fotograf Raymond Depardon, hielt die Szene für immer mit der Kamera fest. Ideale Voraus­setzungen dafür, im Anschluss an die gezeigten Filme konkrete Forderungen zu stellen, aber auch eine Garantie für maximale mediale Aufmerksamkeit. Bereits zwei Tage zuvor war eine halbnackte, mit Kunstblut beschmierte ­Aktivistin auf dem roten Teppich aufgetaucht, um die Vergewaltigung ukrainischer Frauen durch die russische Armee anzuprangern. Die Sicherheitskräfte entfernten sie rasch, doch da hatten die Objektive aus aller Welt ihren Protest bereits eingefangen, der, im Gegensatz zu den Aktionen Tage später, nicht genehmigt war.

Zweimal das gleiche Anliegen, die Sache der Frauen – zwei Formen, Aufmerksamkeit zu erregen. Heute fehlt uns noch der nötige Abstand, solche Aktionen in ihren langfristigen Wirkungen beurteilen zu können. Einen langen Atem braucht eine Bewegung auf jeden Fall. Auch wenn die Idee, das Interesse der Öffentlichkeit an  einem Event für die Verbreitung eigener Botschaften zu nutzen, nicht neu ist, machen sich seit dem Auftauchen von #metoo im Jahr 2017 mehr und mehr engagierte Frauengruppen auf Grossveranstaltungen bemerkbar. 2019 unterzeichnete die Berlinale nach Cannes, Venedig, Annecy und Toronto die auf Parität bei den Festivals zielende Charta «5050 x 2020». Ebenfalls in Berlin wurden die Darstellerpreise 2020 erstmals nicht mehr nach Geschlechtern getrennt vergeben. Aus Glaubwürdigkeitsgründen sollte es jedoch an der nötigen Konsequenz nicht fehlen: Frameline, das älteste und bedeutendste LGBTQ+ Filmfestival, musste eine Vorführung aufgrund einer Partnerschaft mit dem israelischen Konsulat in San Francisco abbrechen. Der Vorwurf: Hier würde «pinkwashing» betrieben.

Bei aktivistischen Protesten, die nicht im Programm vorgesehen sind und sogar gewalttätig ausfallen können, hält sich das Risiko für die Festivalleitung  in Grenzen: sie kann sich je nach Bedarf auf ihre Programmpolitik berufen. Wird ein Antrag auf Unterstützung für ein bestimmtes Anliegen abgelehnt, sollte die Leitung besonderen Wert auf die Kommunikation der Absage legen – schliesslich leben wir im Social-Media-Zeitalter, wo ein Screenshot mit wenigen Klicks geteilt werden kann. Es ist in solchen Fällen nicht ungewöhnlich, dass ein Festival auf Zeit spielt oder die Sache im Sand verlaufen lässt. In ihrer mangelnden Risikofreude sind die Festivals ein Spiegel zeitgenössischer Bedenkenträgerei.

 

Strategien statt Opportunismus

Ist es richtig, deswegen von Opportunismus oder gar «social washing» zu sprechen – dem Zurschaustellen von Moral in eigener Sache? Nicht unbedingt: Als langfristige Strategie verstanden kann sich Militanz in einer engagierten Programmplanung ausdrücken, etwa durch eine an den Problemen der Zeit orientierte Auswahl, aber auch durch Podiumsdiskussionen und andere Dialoge mit dem Publikum. Wie Carine Bernasconi, Forscherin und Dozentin für Filmgeschichte und -ästhetik an der Universität Lausanne, erklärt, kann ein Festival seinen Ruf durch die Bereitstellung spezieller Räume für aktivistisches Engagement stärken, ohne damit den Ablauf der Veranstaltung zu gefährden. Es liegt also im Interesse der Festivals, einen Protest, der sich als logische Fortsetzung einer künstlerischen Auswahl versteht, zu akzeptieren und in der Öffentlichkeit zu vertreten.  

 

Originaltext Französisch

 

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