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Welche Zukunft haben unsere animierten Bilder?

Adrien Kuenzy
26. Mai 2023

Beim Dreh von « Sauvages!» von Claude Barras © Nadasdy Film

Während es äusserst ungewöhnlich ist, dass – wie im Moment – zwei lange Schweizer Animationsfilme zugleich gedreht werden, nimmt die Zahl der Kurzfilme und der Nachwuchstalente stetig zu. Die gläserne Decke der Langfilmproduktion zu durchbrechen, erweist sich im aktuellen Umfeld als sehr schwierig.

Lichtinseln, die sich aus dem Halbdunkel abheben, eine flüchtige Magie, die sich in der kühlen Atmosphäre des Filmstudios ausbreitet. Die 17 Filmsets von «Sauvages!», dem neuen Film von Claude Barras, der vollumfänglich in Martigny gedreht wird, haben das  ehemalige Panoval-Fabrikgebäude eingenommen. Sieben Jahre nach dem Welterfolg von «Ma vie de Courgette» erzählt der Walliser Filmemacher die Geschichte der elfjährigen Kéria, die auf der Insel Borneo lebt. Durch eine Verkettung von Umständen kommt sie dank der Begegnung mit dem Orang-Utan Oshi wieder in Kontakt mit einem Teil ihrer Familie, die der indigenen Volksgruppe der Penan angehört. Rund 3000 Quadratmeter stehen für die Erschaffung des Stop-Motion-Films mit einem Budget von nahezu 13 Millionen Franken zur Verfügung. Der Film ist eine Koproduktion zwischen der Schweiz, die den majoritären Anteil (54.3 Prozent) innehat,  Belgien und Frankreich. Daran beteiligt sind 50 Personen , darunter neun Animatoren und Animatorinnen unter der Leitung eines Chefanimators, der die ästhetische und erzählerische Kontinuität gewährleistet.

Bis September dreht das Team, das zur Hälfte aus Schweizern und Schweizerinnen besteht, 30 bis 40 Sekunden pro Tag. «Unter den Animatoren ist Elie Chapuis der einzige Schweizer», so Nicolas Burlet, der mit seiner Gesellschaft Nadasdy Film als Produzent mitwirkt. «Dafür haben wir drei einheimische Animationsassistenten und -assistentinnen. Wir versuchen, unsere Nachwuchstalente einzusetzen, um unsere Strukturen zu fördern». Elie Chapuis, der gerade eine Waldszene fertiggestellt hat, stösst zu uns. Er zeigt uns, wie er den Puppen mithilfe der Augenbrauen Leben einhaucht. Dank eines Magnetsystems lassen sie sich sehr schnell austauschen. «Dadurch können wir den Ausdruck der Puppe ganz einfach verändern», so Chapuis, der auch Kopräsident des Groupement Suisse du Film d’Animation (GSFA) ist. «Das Gleiche gilt für den Mund, wir haben allein für Oshi fast 30 verschiedene.» Dann macht er sich wieder an die Arbeit. Jede Filmminute kostet im Schnitt 160’000 Franken.

 

© Nadasdy Film

 

Ein besonderes Jahr

In Genf ist derweilen, ebenfalls unter der Führung von Nadasdy Film, ein zweiter Langfilm in Produktion – in der Schweiz eine Seltenheit. Obwohl er nicht einmal über ein Drittel des Budgets von «Sauvages!» verfügt, ist «Mary Anning» von Marcel Barelli nicht weniger ehrgeizig. Der Kinderfilm wird in 2D hergestellt. «Traditionelle Bild-für-Bild-2D-Animation ist zu teuer», so Barelli. «Zudem fehlen in der Schweiz qualifizierte Fachkräfte. Deshalb verwenden wir die Software Toon Boom Harmony für  Design und Compositing. Wir animieren Figuren, die wie Puppen aussehen, aber in 2D animiert werden.»

Weitere Langfilme befinden sich derzeit in der Entwicklung,  ihre Herstellung ist aber noch nicht gesichert: «L’hiver de loup» von Sam und Fred Guillaume, «Rouxelle et les pirates» von Isabelle Favez und die von Hélium Films produzierte Animationsserie «Caca Boudin» von Diane Agatha Schaefer und Claude Barras. Ein kurzes, hoffnungsvolles Aufflackern oder eine dauerhafte Entwicklung für das Schweizer Animationsfilmschaffen? Die Zeit wird es zeigen.

Gemäss den  Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) und der Internetseite animation.ch wurden in der Geschichte des Schweizer Animationsfilms seit dem Erscheinen von «Histoire de Monsieur Vieux-Bois» 1921 nur zehn Langfilme produziert. «Max & Co» der Brüder Guillaume ist mit einem Budget von 30 Millionen Franken bisher der teuerste Schweizer Film aller Zeiten. «Ein grosser Teil der Mitarbeiter von «Ma vie de Courgette» war auch an «Max & Co» beteiligt. Dieses kollektive Wissen trug viel dazu bei, dass «Ma vie de Courgette» mit deutlich weniger Budget realisiert werden konnte», das schreibt Carole Bagnoud, die ab 1. Juli 2023 die Geschäftsleitung des GSFA übernimmt, in ihrer CAS-Abschlussschrift von 2020. Durch die Seltenheit solcher Filme ist es für die Filmschaffenden so, als erstellten sie jedes Mal einen Prototyp.

 

«Der Animationsfilm ist ein Genre, das traditionell grösstenteils dem Kurzformat vorbehalten ist. Wirtschaftlich erlebte er seine goldene Ära zu Zeiten der Vorstellungen mit Vorprogrammen.»
Roland Cosandey, Filmhistoriker

 

Kurzfilme im Aufwind

Während die Zahl der Langfilme gemäss BFS stagniert, steigt die der Kurzfilme stetig an. Seit 2012 liegt sie zwischen 25 und 39 pro Jahr (2022  bei 32), was vor allem an der Zunahme der Nachwuchstalente liegt. Cinéforom verzeichnet seit seiner Gründung im Mai 2011 eine Erfolgsquote von 48 Prozent für kurze Animationsfilme, was deutlich über den der der meisten anderen Sektionen liegt. Von insgesamt 147 eingegangenen Anträgen für kurze Animationsfilme wurden 71 von der Formation romande pour le cinéma unterstützt. «Die Dossiers sind oft gut strukturiert und das Drehbuch detailliert dargelegt, was das Projekt anschaulicher macht», so der Leiter Stéphane Morey.

Gemäss dem Filmhistoriker Roland Cosandey ist «der Animationsfilm ein Genre, das traditionell grösstenteils dem Kurzformat vorbehalten ist. Wirtschaftlich erlebte er seine goldene Ära zu Zeiten der Vorstellungen mit Vorprogrammen. Als er sich zum Autorenfilm weiterentwickelt, wird die Produktion individueller und wird mehr Kunsthandwerk als grosse Studioproduktion. Aufgrund des grossen finanziellen und personellen Aufwands bleibt die Produktion von Langfilmen sehr selten.» Für Jürgen Haas, Leiter des Bachelorstudiengangs Animation an der Hochschule Luzern, «liegt die Stärke des Schweizer Animationsfilms im Autorenfilm, mit einigen herausragenden Persönlichkeiten und vielversprechenden Nachwuchstalenten. Seine Schwäche liegt im Fehlen einer richtigen Industrie.»

 

Animator Elie Chapuis mit der Puppe Kéria © Alexandre Ducommun

 

Den Schritt wagen

Auf Festivals werden bekanntlich viele kurze Schweizer Animationsfilme gezeigt. Im Gegensatz zum Realfilm haben Animationsfilmschaffende nicht zwangsläufig den Drang, Langfilme drehen zu wollen. Diejenigen, die den Schritt dennoch wagen möchten, erwartet ein steiniger Weg. Laut Nicolas Burlet liegt dies vor allem am fehlenden staatlichen Willen, das Wirtschaftssystem rund um den Animationsfilm zu fördern. «Wie überall in Westeuropa ist unsere Filmbranche vom Willen des Staates abhängig. In der Schweiz gibt es, unter anderem aufgrund der vielen Kulturregionen, keinen Markt. Es fehlt an wirtschaftlicher Unterstützung.» Zwar existiert für Langfilme die Filmstandortförderung (FiSS) als kostenabhängiges Fördermittel, doch sie ist keine reale Wirtschaftshilfe. «In Frankreich gibt es eine automatische Steuergutschrift von 30 Prozent. Das macht es uns schwer, wettbewerbsfähig zu bleiben. Im Fall von «Sauvages!» haben wir ein vollständig eingerichtetes Studio, das ich im September abbauen muss. Hätten wir einen Steueranreiz,  könnte ich europäischen Produktionen anbieten, hier zu drehen.»

Gemäss Laurent Steiert, stellvertretender Leiter Sektion Film beim Bundesamt für Kultur, sind derzeit verschiedene Diskussionen rund um die Finanzierung im Gang. Das neue Filmgesetz, das nächstes Jahr in Kraft tritt, weckt ebenfalls Hoffnungen in der Branche. «Unsere Direktion hat eine Studie zur audiovisuellen Landschaft in der Schweiz angekündigt, die als Basis für künftige Gespräche dienen soll. Zudem evaluieren wir derzeit die Filmförderungskonzepte 2021-2024, um prioritäre Bereiche zu definieren, unter Berücksichtigung des schwierigen finanziellen Umfelds.»

In Bezug auf die Wirtschaftsförderung in der Schweiz weist Laurent Steiert darauf hin, dass es in Europa verschiedene Anreizfinanzierungen und Investitionsprogramme für Studios gibt. «In der Schweiz ist die FiSS des BAK, die einen Teil der Drehkosten in der Schweiz rückerstattet, auf 600’000 Franken pro Film begrenzt, mit einem Gesamtbudget von sechs Millionen pro Jahr. Es gibt weitere Programme, wie die im letzten Jahr von der Valais Film Commission initiierte Direktförderung. Deren Auswirkungen sind jedoch derzeit nicht vergleichbar mit ausländischen Steueranreiz-Instrumenten wie in Belgien.» Landesweite Steuerbefreiungen sind in der Schweiz aktuell nicht möglich, da eine entsprechende verfassungsrechtliche Grundlage fehlt. Auf lokaler Ebene werden jedoch gewisse Massnahmen zur Wirtschaftsförderung getroffen, wie im Wallis. Es bleibt zu sehen, ob andere Kantone dem Beispiel folgen.

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