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Treffpunkt: Laurent Dutoit

Adrien Kuenzy
01. November 2022

Laurent Dutoit © Agora Films

Der Verleiher und Kinobetreiber Laurent Dutoit findet, die Aufteilung der öffentlichen Gelder zwischen Produktion, Festivals und dem Vertriebs- und Auswertungssektor müsse überdacht werden. Zudem räumt er mit ein paar Wunsch-Vorstellungen auf.

Was muss angesichts der Kinokrise dringend angegangen werden?

Als Erstes müssen wir das Überleben der Kinos sicherstellen, Möglichkeiten finden, sie zu subventionieren, auch die grossen Ketten. Als Zweites muss die Verleihförderung dringend verbessert werden, um den Filmen mehr Sichtbarkeit zu geben. Der dritte Ansatzpunkt liegt bei der Produktion. Die Politik und die Vergabekommissionen müssen vermehrt Projekte unterstützen, die ein wahres Publikumspotenzial haben. Heute neigen wir dazu, uns zu beglückwünschen, wenn Schweizer Filme es zum Beispiel an die Berlinale schaffen. Dagegen habe ich nichts, doch die Festivalpräsenz sollte nicht das alleinige Ziel sein, sondern vielmehr ein Sprungbrett für einen erfolgreichen Kinostart. Wenn ein Film nach einer Premiere an der Berlinale 4’000 Eintritte verzeichnet, so ist das für mich kein Erfolg.

 

Haben Sie dank Ihrer Doppelrolle eine globalere Sicht auf die aktuellen Probleme?

Da ich beiden Verbänden angehöre, frustriert es mich immer wieder zu sehen, wie jede Seite die Schuld systematisch der anderen zuschiebt. Die Situation aus beiden Blickwinkeln zu sehen ist sicher von Vorteil, doch ich denke nicht, dass das Problem auf rein nationaler Ebene gelöst werden kann. Dennoch müssen wir in unserem Land alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen.

 

Was können die Kinos in der Schweiz also konkret tun?

Wir haben nicht auf die Krise gewartet, um nach Lösungen zu suchen. Eine Wunderlösung gibt es nicht. Ein Kinosaal ist und bleibt ein geschlossener Raum mit einer Leinwand, Sesseln und einem Publikum, das man anlocken muss. Sondervorführungen im Beisein der Filmschaffenden sind sicher eine gute Idee, doch das alleine reicht nicht aus. In Genf kann man nicht dreissig Kinosäle mit Events füllen. Uns wird ständig gesagt, es brauche mehr Begegnungen, das sei das Einzige, was funktioniert, doch das ist ein Hirngespinst. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass ein zu grosses Angebot die Leute schnell überfordert und dass wir Kinobetreiber und Verleiher uns damit nur gegenseitig das Publikum streitig machen. Betrachtet man die Tournee von Lionel Baier mit seinem letzten Film «La Dérive des continents» oder die von Céline Pernet mit «Garçonnières», so sind die Eintritts-Ergebnisse ziemlich ernüchternd. Die blosse Anwesenheit von Filmschaffenden, egal wie bekannt sie sind, ist kein Garant für hohe Eintrittszahlen.

 

Können die Filmfestivals als Inspirationsquelle dienen?

Solche Veranstaltungen haben viel grössere Kommunikationsbudgets und profitieren zudem vom Neuigkeitswert, vom Festivalcharakter, das können wir nicht das ganze Jahr hindurch bieten. In Bezug auf die grossen Festivals darf man auch nicht vergessen, dass sie im Schnitt zu 80 Prozent mit öffentlichen Geldern und anderen Beihilfen finanziert werden und nur 20 Prozent ihrer Einnahmen mit dem Ticketverkauf generieren. In den von mir geleiteten Kinos stellen Subventionen drei Prozent der Einnahmen dar; 97 Prozent des Gesamtumsatzes hängen somit von den Eintritten ab. Würde von den Festivals verlangt, dass sie mit Subventionen in Höhe von drei Prozent ihres Umsatzes auskommen müssen, wären ihre Säle wohl nicht so gut gefüllt. Zudem ist es schwierig abzuschätzen, wie viele Festivalbesucher auch im täglichen Leben begeisterte Kinogänger sind, da dazu keine Daten erhoben werden.

 

Trotzdem: was unternehmen Sie aktuell, um weiterzukommen?

Natürlich sind wir in allen sozialen Netzwerken präsent, doch das hilft nicht wirklich. Ein Post auf TikTok wird die Leute nicht ins Kino zurückholen. Ich bedaure, dass die Kinos in den traditionellen Medien nicht mehr so prominent vertreten sind. Sowohl in den Zeitungen, als auch am Radio und im Fernsehen wird ihnen je länger desto weniger Platz eingeräumt, das zeigt sich in der Deutschschweiz noch stärker als in der Westschweiz.

 

Sie klingen gerade ziemlich pessimistisch.

Im letzten Sommer war ich noch optimistischer. Damals war die Dynamik eine ganz andere, wir kamen frisch aus dem Lockdown und hatten Filme wie «Drunk», «Nomadland», «The Father» und «Adieu les cons». Filme, die beim Publikum sehr gut ankamen. Dieses Jahr hatten wir keine solchen Zugpferde, ausser vielleicht «En corps» von Cédric Klapisch und  Ende 2021 «La Panthère des Neiges - Der Schneeleopard». Diesen Herbst gab es wenige Filme, die uns Aufschwung verliehen, obwohl wir mit den Zahlen von «Triangle of Sadness» zufrieden sind. Die Oscar-Filme, die 2023 herauskommen, haben jedoch grosses Potenzial. Ich bleibe also zuversichtlich, denn das fehlte uns Anfang dieses Jahres. Wenn wir aber im nächsten Frühling ähnliche Zahlen verbuchen wie dieses Jahr, so ist es ohne Coronahilfen nicht mehr tragbar.

 

Könnte eine Lösung in der vermehrten Zusammenarbeit mit Streaming-Plattformen liegen?

Auch hier handelt es sich um Wunschdenken. Betrachtet man die Zahlen von 2021, so war die TVoD-Nutzung schweizweit rückläufig. Ich sehe es als Verleiher: Der VoD-Umsatz erreicht nicht einmal 20 Prozent des Kinoumsatzes. Zu behaupten, der Markt habe sich verändert und die Leute bezahlten dafür, Filme auf VOD zu schauen, die in den Kinos gelaufen sind, ist schlichtweg falsch.

Mit den florierenden Plattformen wie Netflix oder Disney+ ist kein Dialog möglich, und wir verlieren natürlich das Publikum, das sich diesen Anbietern zuwendet. Man muss jedoch auch sagen, dass Netflix-Filme im Kino meist miserabel abschneiden. Es gibt dazu keine offiziellen Zahlen, da Netflix sie nicht herausgeben will, doch wir wissen zum Beispiel, dass «Don’t Look Up», der online ein Riesenerfolg war, bei seinem Kinostart zwei Wochen zuvor sehr schlechte Ergebnisse einspielte. Der Einzige, der Erfolg hatte, war «Roma». Würden Filme wie «Top Gun» oder ein «James Bond» praktisch zeitgleich im Kino und online anlaufen, hätten wir wesentlich weniger Eintritte zu verzeichnen. Das ist also kein Geschäftsmodell für uns, sondern würde uns vielmehr schwächen. Man kann jedoch nicht alle Filme über einen Kamm scheren; für Filme mit sehr geringem Marktpotenzial kann ein zeitgleicher Start online und im Kino Sinn machen. 

 

Originaltext Französisch 

Biografie

1978

Geburt in Lausanne

1994

Erhält einen Kinopass und wird zum passionierten Kinogänger

1997

Arbeit im Kino Bourg in Lausanne an der Bar, an der Kasse und schliesslich im Vorführraum

1999

Umzug nach Genf und Einstieg als Praktikant bei Agora Films

2003

Ernennung zum geschäftsführenden Partner von Agora Films, zusammen mit José Michel Buhler

2005

Übernahme der Programmgestaltung der Kinos Scala, Broadway und Nord-Sud

2012

Kauf und Leitung der Kinos Les Scala und Le City

2014

Alleiniger Teilhaber von Agora Films; Besitzübertragung  der Kinos an den Verein Association Les Scala; Ernennung zum Co-Präsidenten von Europa Distribution

2019

Übernahme des Kinos Le Nord-Sud

2021

Renovation und Wiedereröffnung der Kinos Les Scala, nach den Renovationen des Le City (2016) und des Nord-Sud (2019)

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