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Der Standpunkt von Kevin B. Lee

Pascaline Sordet
27. März 2019

Kevin B. Lee (Bild: zvg)

Filmkritik mit filmischen Mitteln zu machen scheint als Idee naheliegend, und doch nehmen nur wenige das Wagnis auf sich. Wie sind Sie zum Film gekommen?

Ich bin kein Film-Akademiker, ich entschloss mich erst später, eine Laufbahn in dieser Branche einzuschlagen. Meine ersten Gehversuche machte ich im Internet. In meinen Videos versuchte ich, der Funktionsweise des Films auf die Spur zu kommen. Ich habe viel Zeit online verbracht, und das hat meine Sprache beeinflusst. Ich bin ein Filmkritiker mit Fokus auf dem Internet. Ein Kind des Internets.

 

Wann haben Sie mit Ihren Video-Essays begonnen?

2006, im Rahmen meines Blogs. Ich war der ewigen Beschreibungen müde, und da ich über Regieerfahrung verfügte, habe ich damit angefangen, den Texten Clips beizufügen. Zu der Zeit standen Blogs im Zentrum der Netzaktivitäten, soziale Interaktion bildete sich um private Webauftritte herum. Heute bewegen wir uns lieber von Plattform zu Plattform, wie Reisende, damals allerdings war ich mein eigener Gastgeber. Der Aufstieg von YouTube hat das alles möglich gemacht: Zunächst dienten die Schnipsel zur Illustration, dann habe ich Kommentare aufgenommen und schliesslich Montagen daraus erstellt, um die Sache komplexer zu machen.

 

Wie wurden diese Videos von Ihren Kollegen aufgenommen?

Die spontane Anerkennung, die diese Video-Essays erfuhren, war für mich eine Art Schlüsselerlebnis. Ich war ja kein bekannter Kritiker, erst das Videoformat hat die Aufmerksamkeit meiner Kollegen auf sich gezogen. Wir sind dann sehr schnell zu ersten Kooperationen gelangt, ich war einfach daran interessiert, welche Sichtweisen und Ideen sie in das Format einbringen und was für Essays sie daraus kreieren würden.

 

Sie arbeiten mit urheberrechtlich geschützten Bildern. Hatten sie deswegen schon Probleme?

Ich habe vieles auf meinem Blog und auf meinem YouTube-Kanal herausgebracht. Um 2009 herum gab es auf Druck der Rechteinhaber hin eine Änderung der Firmenpolitik, und eines Tages hat YouTube einfach meinen Account gesperrt. Da meine Inhalte aber eine gewisse kulturelle Wertschätzung erfuhren, hat das eine notwendige Diskussion über die Nutzung urheberrechtlich geschützter Bilder durch die Kritiker angestossen: was es bedeutet, einen Film zu zitieren und nicht nur über ihn zu schreiben.

 

Die Video-Essays haben auch andere Medien interessiert. Wer waren Ihre Auftraggeber?

Fandor ist an mich herangetreten, ein Streaming-Dienst, der die Sichtbarkeit seiner Filme erhöhen wollte, ich wurde als «Essayist» engagiert. Das ist in kommerzieller Hinsicht interessant: Die Produktionsfirmen sehen die Videokritik inzwischen eher als wertsteigernde Massnahme für ihre Filme denn als Urheberrechtsverletzung. Ehrlich gesagt bin ich mittlerweile selbst ein wenig misstrauisch, wenn Videos Filme bloss abfeiern.

 

Ist es denn nicht einfach so, dass bei den beliebtesten Videoessays die Faszination für den Film im Vordergrund steht und nicht die Kritik?

Es gibt verschiedene Ebenen von Faszination, die in unterschiedlichen Formen auftritt. Der «Supercut» zum Beispiel nimmt den Zuschauer durch die Aneinanderreihung spezifischer Details gefangen, wiederkehrender Gesten etwa [wie ein Zusammenschnitt von Tanzszenen aus einer Vielzahl von Filmen, Anm. d. Red.]. Die «Supercuts» funktionieren, ähnlich wie unser gesamtes kulturelles Ökosystem, quasi algorithmisch: auf Basis der Wiedererkennbarkeit von Motiven. In einer  anderen Form, den «Explainern», funktioniert das Kino als Datenverzeichnis: «Hier habt ihr alles, was ihr über Kubrick wissen müsst!» Es geht dabei ganz konkret um die Vermittlung von Wissen. Im Grunde jedoch haben beide Formen ihre Grenzen. Auch wenn sie auf den ersten Blick noch so viel Stoff umwälzen, noch so offen wirken, ist der kritische Gehalt dieser Videos nicht sehr hoch.

 

Was wäre die Alternative?

Mein Dokumentarfilm «Transformers: The Premake» steht für eine neue Herangehensweise [Anm. d. Red.: er gehört einem Genre an, das Kevin B. Lee «desktop documentary» nennt: mit Screenshots realisierte Videos, die Internetrecherchen, Karten aus Google Maps, Unterhaltungen über Skype und YouTube-Videos in Beziehung setzen]. Das zeigt ganz gut, dass es Zeit braucht, in einen Stoff einzutauchen und für ihn eine Erzählform zu finden. Tatsächlich interessiert mich dies am meisten: wie Video-Essays in direkter Auseinandersetzung mit einer durch und durch mediatisierten Welt neue Formen des Kommentars hervorbringen. In seinen Anfängen war der Video-Essay per se eine neue Form, zehn Jahre später erkennen wir die Formeln und Klischees bei seiner Herstellung.

 

Wo sehen Sie – angesichts der Social-Media-Explosion, der Medienkonzentration und der leichteren Produktionsweisen sowie des Zwangs zu immer grösserer Flexibilität – die Zukunft der Kritik?

Ich denke, wir sollten auch weiterhin Erklärungen zu allen Aspekten unseres medial geprägten Umfelds anbieten. Eine sich ausschliesslich um sich selbst drehende Cinephilie war nie mein Ding, ich war immer ein Outsider, der sich in der privilegierten Position, die manche Kritiker vor sich hertragen, unwohl fühlt. Der Berufsstand hat sich inzwischen demokratisiert, geöffnet, man stösst heute auf eine unfassbare Meinungsvielfalt. Es ist toll, dass neue Stimmen sich Gehör verschaffen; aber wie in allen Bereichen von Öffentlichkeit hat das auch die Zahl echter Experten verringert. Wir leben in einem seltsamen historischen Moment: Je mehr Leute zu Wort kommen, desto weniger fühlen sie sich wahrgenommen. Beim Video-Essay können alle mitreden, für Kinofans ist er zu einem beliebten und leicht handhabbaren Genre avanciert; wenn ich nach Nyon gekommen wäre, hätte ich das betont. Man muss dieses Gesamtbild vor Augen haben, wenn man verstehen will, warum die Kritiker an Respekt verloren haben. Ich denke aber auch, dass dies eine Chance für den Berufsstand ist, sich eben diesen Fragen zuzuwenden, wie auch der Art und Weise, in der sie den Film und die Filmindustrie beeinflusst.

 

Sehen Sie sich noch als Filmkritiker oder eher als Dokumentarfilmer mit dem Forschungsgebiet Kino?

Ich glaube, ich kann mich mit keiner der beiden Rollen ganz identifizieren. Ich mache Dokumentarfilme über meine eigene Wahrnehmung des Kinos. Ich interessiere mich für die Erfahrung des Zuschauers, weil das die Frage ist, mit der es damals für mich losging, auf meinem Blog und später bei Fandor. Ich habe Spass daran, den Raum zwischen mir und dem Film auszuloten. Mein Interesse am Video-Essay als einer Form des Experimentalkinos nimmt ständig zu.


▶  Originaltext: Französisch

Kevin B. Lee ist Regisseur und Filmkritiker. Er war einer der ersten, die den Video-Essay als Form der Kritik voranbrachten. Er hat mehr als 360 Video-­Essays für verschiedene Medien und Cross-­Media-Plattformen produziert, darunter Fandor, Indiewire, Sight & Sound sowie die New York Times. Er lebt hauptsächlich in Deutschland, wo er an der Stuttgarter Merz Akademie «Crossmedia Publishing» lehrt.

Inzwischen experimentiert er auch mit längeren Formen: Sein Dokumentarfilm «Transformers: The Premake» erhielt eine Einladung zur Kritikerwoche der Berlinale. Seine Arbeiten werden auf Filmfestivals wie auch in Museen gezeigt, darunter im MoMa. 

«Critical Clicks»: Herausforderungen der digitalen Filmpublizistik

Was bedeutet heute Filmkritik? Wer liest noch lange Texte? Um die digitalen Ressourcen zu nutzen, sollten wir Töne und bewegte Bilder miteinbeziehen.

 

Teilnehmer:

Ekkehard Knörer, Cargo und Merkur

Giuseppe Di Salvatore, Filmexplorer

Johannes Binotto, Filmbulletin

Nadin Mai, The Art(s) of Slow Cinema

 

Moderation: Pascaline Sordet, Cinébulletin

Montag, 8. April

15:00 - 17:00

Industry (La Mobilière)

Screening Room 1

Eintritt frei

Auf Englisch

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