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«Wie ein virtueller Kinosaal»

Das Gespräch führte Pascaline Sordet
23. Juli 2020

Thierry Spicher © zvg

Während des Lockdown hat der Lausanner Verleih Outside the Box Online-Filmstarts realisiert  – nicht zu verwechseln mit einer Auswertung per Streaming: Die eingespielten Erträge wurden zwischen den Kinos und dem Verleiher geteilt. Thierry Spicher will dieses Konzept weiterentwickeln.

 

Sie haben damit begonnen, Filme zusammen mit den Kinos online zu lancieren, wobei sich beide die Erlöse teilen, und Sie wollen damit fortfahren. Warum?

Kinos, Verleihfirmen, Medien haben grosse wirtschaftliche Schwierigkeiten, denn Filme werden vermehrt über andere Kanäle konsumiert. Also haben wir uns überlegt, was wir tun können, damit ein Teil des Geldes, das nicht mehr zu den Kinos fliesst, diesen traditio­nellen Akteuren zugutekommt.

 

Haben Sie keine Angst, dass dies kontraproduktiv ist und die Leute damit noch weniger ins Kino gehen?

Anspruchsvolle Arthaus-Filme können schon jetzt nicht mehr sechs bis acht Wochen lang im Kino gezeigt werden, damit alle eine Gelegenheit finden, sie sich anzusehen. Diese Filme über andere Kanäle anzubieten schadet folglich dem Kino nicht, da es ohnehin nicht die gesamte Nachfrage befriedigen kann. Natürlich ist Kino ein Gemeinschaftserlebnis, das von der grossen Leinwand lebt, doch was sollen wir tun, wenn dieses nicht mehr möglich ist?

 

Sie finden also, das Kino sei ein Auslaufmodell?

Nein, Cinephile haben eine starke Bindung zu ihrem Kino, das sie aufgrund ihrer Vorlieben auswählen. Die Kinos haben somit eine Empfehlungsfunktion. Je mehr sie auf Gemeinschaft setzen, desto gewichtiger ist diese Rolle, vor allem in den Städten. Je nach Filmgeschmack geht man in Genf eher nach Carouge ins Bio als ins Arena, in Zürich eher ins Riffraff als ins Pathé nach Dietlikon. Deshalb sagen wir uns, dass Kinos ihre Filme auch online anbieten können.

 

Hat dieses Modell während der Coronakrise funktioniert?

Die Kinos, die schon vorher damit begonnen hatten, wie zum Beispiel in Basel, erzielten deutlich höhere Umsätze als die anderen, da sie sich bereits eine Community aufgebaut hatten.

 

Werden die Filme als Stream und in den realen Kinosälen zeitgleich vorgeführt?

Diese Entscheidung ist den Kinos überlassen. Ich bin liberal eingestellt: Je weniger man reguliert, desto besser, wobei man einen gewissen Rahmen festlegen kann. Die Schweizer Produzenten befürchten zum Beispiel, die virtuellen Vorführungen könnten zu einer Art Abstellkammer der Kinos werden. Doch es gibt jetzt schon viele «sorties techniques», also Filme, die nur pro forma im Kino gezeigt werden. Wenn wir heute sehen, wie viel Geld zu Swisscom, Netflix und für Raubkopien abfliesst, während die Kinos doch eine meinungsbildende Funktion behalten sollten, so können wir mit  unserem Modell doch gleichzeitig die wirtschaftliche Lage und die Sichtbarkeit der Filme verbessern. Wir müssen den Kinos und den Verleihern freie Hand lassen, damit sie die Bedingungen untereinander aushandeln und die Preise selbst festlegen können. So können wir erreichen, dass das Geld bei den traditionellen Akteuren bleibt – das ist einen Versuch wert.

 

An welcher Stelle der Verwertungskette steht der virtuelle Kinostart?

In der Schweiz gibt es keine festgelegte Verwertungskette, das hängt vom jeweiligen Vertrag ab. Für uns ist es vielmehr wichtig, dass virtuelle Kinostarts auf internationaler Ebene als Kinostarts anerkannt werden und nicht als Streaming gelten. Sonst können wir zum Beispiel einen französischen Film nicht vor seinem Streaming-Start in Frankreich zeigen. Die internationalen Vertriebe sind mehrheitlich einverstanden, denn sie erkennen den Handlungsbedarf. Damit es funktioniert, müssen die Leute verstehen, dass es sich hier nicht um eine weitere Streaming-Plattform, sondern um einen virtuellen Kinosaal handelt.

 

Wie könnte ein solches Angebot aussehen?

Alles ist möglich: Vorführungen zu festen Zeiten, mit Fragerunde via Zoom, zeitgleiche Vorführungen im virtuellen und realen Kinosaal, ein spezieller Katalog für den virtuellen Kinosaal oder ein gemischtes Programm mit virtuellen Vorführungen unter der Woche und realen am Wochenende, virtuelle Filmstarts gefolgt von Kino-Anlässen mit dem Regisseur – das kommt ganz auf den Film an.

 

Unter welchen Voraussetzungen kann ein solches Angebot funktionieren?

Es kann nur funktionieren, wenn die Kinos mitziehen und sich eine lokale Community aufbauen. Das ist das Ziel der französischen Plattform La Vingt-Cinquième Heure, für die wir gerade eine Lizenz erwerben. Dank einer exakten Geolokalisierung kann man nur Tickets in einem Umkreis von 50 Kilometern rund um seine IP-Adresse kaufen.

 

Der Preis wird oft als Grund genannt, weshalb die Leute nicht mehr ins Kino gehen. Wie sind Sie während des Lockdown auf den Preis von zehn Franken gekommen?

Das war ganz willkürlich. Zehn Franken ist der Mindestbetrag, um im Besucherzählsystem von ProCinema erfasst zu werden. Da wir möchten, dass die virtuellen Kinobesuche auch erfasst werden, haben wir diesen Betrag gewählt.

 

Bei einem klassischen Kinoticket werden die Einnahmen unter allen Akteuren aufgeteilt. War dies hier auch der Fall?

Ja, genau. Von den Bruttoeinnahmen werden die Betriebskosten abgezogen, und der Rest wird unter dem Betreiber und dem Verleiher aufgeteilt. In unserem Fall haben wir 22 Prozent Vimeo-Gebühren sowie die SUISA bezahlt und den Rest hälftig zwischen Betreiber und Verleiher aufgeteilt. In Bezug auf die Urheberrechte ändert sich nichts, die Verleiher rechnen mit den Produktionsfirmen ab und diese wiederum mit den Autorinnen und Autoren.

 

Damit ein virtueller Kinostart attraktiv ist, müsste er Zugang zum System von Succès Cinéma erhalten. Ist dies Ihre Absicht?

Ja, vor allem für die Kinos, die Hilfen zur Förderung der Angebotsvielfalt erhalten und für Schweizer Produzentinnen und Produzenten. Wir leben in einem konservativen Land und in einem konservativen Milieu. Deshalb ist dieser Anreiz nötig, um das Projekt auf die Beine zu stellen. Um niemanden zu verärgern, könnte man festlegen, dass jeder Film neben der virtuellen Verwertung zwei Wochen lang im Kino gezeigt werden muss. Ende Juli sollten wir mehr dazu wissen.

 

Sie steigen von Vimeo auf La Vingt-­Cinquième Heure um, die nur 20 Prozent Gebühren abzieht. Ist dies der Grund für den Wechsel?

Nein, keineswegs. Wir möchten nicht von einem grossen Anbieter abhängig sein, auf den wir keinerlei Einfluss haben. Vimeo ist ein praktisches System, doch La Vingt-Cinquième Heure bietet viel mehr. Dort will man wirklich eine massgeschneiderte Lösung für Kinos entwickeln.

 

Also eine Art Direktauslieferung für Filme?

Nicht ganz, denn es geht um nachhaltige Wirtschaft. Es ist doch schade, wenn ein Film nur zwei Wochen lang sichtbar ist. So könnte er virtuell weiter gezeigt werden, und vielleicht an den Wochenenden im Kino, das müssen wir ausprobieren.

 

Könnte ich ohne ein Kino zu betreiben ein rein virtuelles Kino eröffnen?

Darauf ist das System nicht ausgelegt, denn wir möchten ja Einnahmen  für die traditionellen Akteure erzeugen, damit sie überleben können. Auch wir sind der Meinung, dass das Filmerlebnis im Kino am besten ist. Doch wir müssen sehen: dies bloss festzustellen genügt nicht mehr.

 

Welches Interesse haben Sie an der Sache?

Wir wollen die Kinos dazu bringen, Partnerschaften einzugehen, mit der Presse zusammenzuarbeiten und dem Filmstart einen Kontext zu geben. Eine Vertriebsplattform ist, verglichen mit der Kinovorführung, etwas sehr Egoistisches, die Kinos verdienen daran nichts. Persönlich habe ich hier kein Interesse. Hätte ich es, würde ich ein Kino mit einer Bar eröffnen. Ich denke einfach, dass wir mit diesem Angebot mehr Leute ins Kino locken und die Filme besser verbreiten können.

 

Ab wann wird die Schweizer Version von La Vingt-Cinquième Heure verfügbar sein?

Wir sind gerade dabei, den Vertrag abzuschliessen und die Kinos zu kontaktieren. Auch haben wir Gespräche mit allen Schweizer Unterstützungsfonds aufgenommen. Wir hofften auf eine Lancierung diesen Herbst, doch es wird wohl eher 2021 werden.

▶  Originaltext: Französisch

«Wieviel ist ein Filmstart wert?»

Wo und wie ein Film dem Publikum am besten präsentiert wird, hängt heute von vielen unterschiedlichen Faktoren ab, die sich stark auf die Wahrnehmung eines Filmtitels auswirken. Nicht alle Filmstarts – seien es Festival-, Kino-, TV- oder Strea­ming-Premieren – erzielen die gleichen Ergebnisse in Bezug auf Qualität, Publikumssegment, Interaktion, wirtschaftlichen Ertrag oder Sichtbarkeit. In diesem extrem heterogenen Kontext werden Fragen zum Wert eines Filmstarts, zur angemessenen Vertriebsstrategie und zur Chronologie der Auswertung immer entscheidender. Darüber soll am SwissBiz gesprochen werden, dem Online-Round table von Locarno Pro in Zusammenarbeit mit Cinébulletin.

 

Mit:

Andreas Furler, Cinefile 

Jela Škerlak, Eurimages, BAK

Joel Fioroni, LUX art house 

Karin Koch, Dschoint Ventschr

Thierry Spicher, Outside the Box 

 

Moderation: Pascaline Sordet

 

Montag, 10. August, 18:00-19:30, begrenzt auf 500 Personen, Anmeldung auf der Website des Festivals. Auf Französisch und Deutsch, ohne Übersetzung.

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