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«Zuweilen braucht es eine Krise, um das System zu überdenken»

Fanny Haussauer
17. August 2020

Thierry Spicher, Joel Fioroni, Jela Škerlak, Karin Koch und Andreas  Furler (von links).

Am 10. August fand im Rahmen des Locarno Film Festival eine vom Festival und Cinébulletin gemeinsam organisierte SwissBiz-Gesprächsrunde statt. Diese ist auch online abrufbar.

In der Runde unterhielten sich fünf Schweizer Branchenleute über verschiedene Arten, einen Film herauszubringen und deren symbolischen, kommerziellen und strategischen Wert. Eine gute Gelegenheit, um Bilanz zu ziehen über die aktuelle Lage und sich zu fragen, ob die derzeitige Krise unsere Art, Filme herauszubringen, verändern sollte.

Produzentin Karin Koch von Dschoint Ventschr betonte gleich zu Beginn des von CB-Redaktorin Pascaline Sordet moderierten Gesprächs, dass viele Probleme, mit denen der Schweizer Film derzeit konfrontiert sei, weder neu noch direkt auf die Krise zurückzuführen seien: «Die Probleme begannen bereits lange vor dem Coronavirus. Schon damals war es schwierig, mit kleinen Arthaus-Filmen und qualitativ hochstehenden Dokumentarfilmen Kinosäle zu füllen», führte sie aus. «Meist war bei solchen Filmen der Saal bei der Premiere voll, doch danach schwand das Publikum.»

Filmverleiher Thierry Spicher von Outside The Box erwiderte, es sei tatsächlich Zeit für einen Modellwechsel: «Die Leute erwarten, dass alles wieder so wird wie vorher, doch die Kinosäle waren damals schon aus verschiedenen Gründen unterbesucht: zu viele Kulturangebote und Festivals, hohe Eintrittspreise, zunehmende Nutzung von Streaming-Plattformen, teilweise überholte Marketingstrategien und so weiter.»

Karin Koch unterstrich weiter, das Problem der sinkenden Besucherzahlen werde noch verschärft durch die Tatsache, dass die Filmbranche es in den letzten Jahren versäumt habe, den veränderten Konsumgewohnheiten des Publikums Rechnung zu tragen: «Wir haben es zugelassen, die Jungen und die Zuschauer mittleren Alters zu verlieren, und nun bleiben die Senioren – die bis anhin noch ins Kino gingen – auch weg, und diese Zielgruppe wird nicht sofort auf das Internet umsteigen.» Gemäss der Produzentin habe die Krise jedoch gezeigt, dass auch Leute, die früher Vorbehalte hatten gegenüber neuen Technologien, sich relativ schnell anpassen und Streaming-Plattformen wie Myfilm, Filmingo und Cinefile schätzen lernen.

Andreas Furler, Gründer und Geschäftsführer von Cinefile, gesteht ein, dass die Krise für eine junge Plattform wie Cinefile vorteilhaft war: «Diese Krise hat uns enormen Auftrieb gegeben», erklärt er. «Seit Beginn des Lockdown im März hat sich die Zahl unserer Nutzer mindestens verfünffacht oder gar versechsfacht. Die Anzahl verliehener Filme ist in gleichem Masse oder sogar noch stärker angestiegen.»

 

Die Kinos im Fokus

Alle waren sich einig, dass die Kinos von der aktuellen Krise am stärksten betroffen sind und dass die gesamte Branche die Kinobetreiber unterstützen muss. Zudem müssen die Kinos Anstrengungen unternehmen und sich hervortun, um im Wettstreit mit den Plattformen bestehen zu können. Joel Fioroni, Betreiber des LUX in Massagno, betonte: «Die Kinos müssen in der Lage sein, ein Erlebnis zu bieten, das andersartig und hochwertiger ist als das, was wir zu Hause auf dem Sofa erleben können.»

Zudem unterstrich er, dass in kleinen Kinos vor allem der Platz ein Problem darstelle. Viele Filme wollen gezeigt werden und jeder einzelne kann deshalb nicht sehr lange im Programm bleiben. Für Schweizer Filme erachtet er es als strategisch günstiger, sie zu ruhigeren Zeiten des Jahres zu zeigen, zum Beispiel nach den Sommerferien, damit sie nicht im Schatten der grossen internationalen Produktionen untergehen. Dies ermöglicht es zudem, den Kinostart der Schweizer Produktionen gut vorzubereiten.

 

Das BAK passt seine Verleihförderung an

Jela Škerlak vom Bundesamt für Kultur rief in Erinnerung, dass Streaming nicht als Konkurrenz des Kinos betrachtet werden sollte, sondern als eine Ergänzung. In der Schweiz habe nicht jede und jeder ein Kino in unmittelbarer Nähe. Umso wichtiger sei es, dass alle Arten von Filmen, einschliesslich Schweizer Filme und Autorenfilme, auf diesen Plattformen verfügbar sind.

Der Bund entwickelt derzeit zwei Strategien für die kommenden Jahre: einerseits eine Politik zur Förderung des Kinos als sozialer Ort der Begegnung und des Austauschs, unter anderem mit Akteuren der Filmbranche, und andererseits die Anpassung der Förderinstrumente an die Verwertungsstrategie, insbesondere für Filme, die direkt auf VoD erscheinen.

Thierry Spicher ist ebenfalls der Meinung, es sei wichtig, dass nicht nur Filmstarts im Kino, sondern auch solche im E-Kino und auf VoD von den Förderbeiträgen von Succès Cinéma profitieren können, denn das beeinflusse die gesamte Produktions- und Vertriebskette. Dies sei eine gute Art, um alle, die in der Schweiz Filme produzieren, mit einzubeziehen. Die Entscheidung des BAK, die Plattformen mit einer Abgabe von 4% zu belegen, um diese Mittel in den Schweizer Film zu investieren, sei bereits sehr angemessen, fügt er an.

 

Die Entwicklung eines neuen Modells ist unerlässlich

Für die Beteiligten ist es unerlässlich, dass ein neues Modell entwickelt wird, das sowohl die traditionellen als auch die neuen Vertriebsmodelle berücksichtigt. «Wir müssen unsere Verwertungsstrategie ändern und anpassen. Die Pandemie hat die Situation enorm verschärft. Zuweilen braucht es eine Krise, und sei sie noch so schwer, um uns dazu zu zwingen, das System zu überdenken», erklärte Karine Koch. Eine der wichtigsten Aufgaben der Branche besteht darin, das verlorene Publikum zurückzugewinnen, und dies sei nur möglich, wenn die Kinosäle nicht mehr als einzige Möglichkeit betrachtet werden: «Wir müssen unsere Filme zu den Leuten bringen. Das ist uns bewusst und wir arbeiten daran, denn hier tun sich Möglichkeiten auf», so die Produzentin.

Für Joel Fioroni liegt die Zukunft in der Kommunikation zwischen beiden Welten: dem Kinosaal und dem Streaming. Andreas Furler gibt jedoch zu bedenken, dass eine Weiterentwicklung des Angebots nicht unbedingt auch die Nachfrage erhöht. Für gewisse Filme gibt es in der Schweiz bestimmte Zielgruppen, die nicht grösser werden, nur weil der Film auch über Online-Plattformen vertrieben wird.

Originaltext: Französisch

Die Diskussion ist hier abrufbar: https://www.locarnofestival.ch/en/LFF/locarno-2020/search/program?prgid=1174183

 

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