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Filme, die den Bildschirm sprengen

Pascaline Sordet
27. März 2019

« Enterre-moi mon amour » (2017), ein interaktiver Film für Mobiltelefone.

Webdoku, Transmedia-Dokumentation, Doku-Comic für Smartphones: die Formenvielfalt des Dokumentarfilms sprengt alle Konventionen. Die Frage, ob man überhaupt noch von Film sprechen kann, ist für die Kulturpolitik wichtiger ist als für die Autoren.

«Notes on Blindness» (2016) von Peter Middleton und James Spiney ist zunächst ein klassischer Dokumentarfilm. Anhand von Nachstellungen mit Archivbildern erzählt er die Geschichte von John Hull, der Anfang der Achtzigerjahre allmählich erblindet und seine Erfahrungen auf Tonband aufzeichnet. Doch «Notes on Blindness» ist nun auch ein Virtual-Reality-Projekt, das auf jenen Tonaufzeichnungen basiert. Durch Spielmechanismen und Interaktivität lässt die Doku-App den Zuschauer die kognitive und emotionale Erfahrung des allmählichen Erblindens miterleben.

Trotz ihrer Unterschiede in Bezug auf Form, Wirkung und Verwendung verdienen beide Erscheinungsformen von «Notes on Blindness» die Bezeichnung dokumentarisch. Die virtuelle Realität nimmt zunehmend Konturen an, doch wie steht es um die Webdokus? Gibt es sie überhaupt noch? Und alle anderen Formen, vom interaktiven Spiel bis zum nichtlinearen Film? Diese neuen Bereiche des Dokumentarischen gilt es erst noch zu erschliessen.

 

Eine Definitionsübung

Vor zehn Jahren standen Web-Dokumentarfilme wie «Gaza/Sderot» (2008) oder «Voyage au bout du charbon» (2008) im Fokus des Interesses am digitalen Schaffen. Oft von Journalisten produziert, verbanden sie auf eigens dafür eingerichteten Websites statische und bewegte Bilder, Texte und Infografiken, Ton und Technologie. Heute sind die meisten davon nicht mehr zugänglich, und die Vertreiber haben dieses Format mehr oder weniger aufgegeben.

Damit der Begriff «Webdoku» weiterhin Sinn macht, müssten diese gemäss David Dufresne, Autor des mehrfach preisgekrönten «Prison Valley» (2010), als Dokumentarfilme für das Internet verstanden werden und nicht als solche, die ausschliesslich im Internet gezeigt werden. Dufresne tritt für Werke ein, die sich am Internet, «also an einer hypertextuellen Logik» orientieren und den Benutzer auffordern, von Link zu Link seinen Interessen zu folgen und so in einem gegebenen Rahmen den erzählerischen Faden selbst zu spinnen. Auf Einladung von Fonction:Cinéma diskutierte der Journalist kürzlich in Genf mit Ulrich Fischer, Gründer von Memoways, und Cédric Mal, Gründer von Le blog documentaire – beide ebenfalls Dokumentarfilmer – die Frage: Wo steht der Web-Dokumentarfilm im Zeitalter der sozialen Netzwerke und der zunehmenden Verbreitung von Smart­phones?

Aus dem Publikum kam die Frage, ob man hier überhaupt noch von Film sprechen kann; die Frage ist aus der Sicht der drei Gesprächs­teilnehmer des Panels gar nicht mehr so wichtig. Für Cédric Mal handelt es sich um «Dokumentarfilm, so wie es auch dokumentarisches Theater, Doku-Comics oder narrativen Journalismus gibt.»

 

Bedeutung für die Kulturpolitik

Die Frage, was Kino ist und was nicht, mag kleinlich scheinen, doch ist diese Frage durchaus von Belang. Für eine wirksame Kulturpolitik müssen Werke in Bereiche eingeteilt werden, damit die Kulturschaffenden Zugang zu geeigneten Förderins­trumenten erhalten und die eingereichten Projekte verglichen werden können. Zudem müssen gattungsspezifische Produktionsbedingungen erfüllt sein. Ulrich Fischer erläuterte, dass bei interaktiven Werken «zur kreativen Arbeit auch die Herstellung des Werkzeugs gehört. Man muss seine eigene Kamera, seine eigene Software entwickeln und Lösungen finden, damit das Projekt auch nach seiner Erstauswertung weiterleben kann.»

Cédric Mal betonte, dass eine weitere grosse Herausforderung bei diesen neuen Ausdrucksformen darin liegt, sie an die Leute zu bringen: «Im Bereich der Videospiele wird ein Drittel des Budgets für Marketing aufgewendet. Doch bei interaktiven Dokumentarfilmen wissen wir nicht, wie wir ans Publikum herankommen sollen.» Zudem muss der Zuschauer bis zu einem gewissen Grad mit der technischen Apparatur vertraut sein. «Diese Frage der ‹Fähigkeit des Zuschauers› stellte man sich zu Beginn der Filmgeschichte auch», erinnerte David Dufresne. «Für die Vertreiber, die sich schwertun mit der Vermarktung dieser Projekte, ist dies nicht sehr ermutigend, zumal der Wettbewerb nirgends so hart ist wie im Internet.»

 

Die Rolle der Autoren

Die stärksten Projekte sind diejenigen, die von Autoren getragen werden, selbst wenn ihre Rolle nicht die gleiche ist wie bei klassischen Formaten. David Dufresne meint dazu: «Durchs Einbinden des Zuschauers in die Erzählung wird der Autor noch präsenter, wenn auch auf andere Weise. Er kontrolliert die Welt, in der sich der Zuschauer bewegt, die Datenbank, und gibt die Spielregeln vor, anstatt nur die Reihenfolge der Sequenzen zu bestimmen. Doch es ist und bleibt der Autor, der die Geschichte in Szene setzt!» Ulrich Fischer arbeitet in Genf seit zehn Jahren an offenen Formen der digitalen Kreation, wie «Walking the Edit» (2008), wo auf Grund von Geolokalisationsdaten des Nutzers sich Sequenzen zu einem Film zusammenfügen. Der Autor ist für ihn «wie ein Architekt oder Städteplaner. Er muss Zeit und Raum berücksichtigen, sich in die Nutzer hineinversetzen und ihr Verhalten voraussehen, um einem jeden gerecht zu werden.»

Die zwei meistverbreiteten Formate sind derzeit Webserien, die einfach zu produzieren sind und nahe am klassischen Format bleiben, sowie Virtual-Reality-Projekte, da die Hersteller von VR-Brillen stets auf der Suche nach Inhalten sind. Interaktive Dokumentarfilme, wo der Zuschauer wie bei einem Videospiel aktiv in den Lauf der Geschichte eingreift, sind weniger verbreitet. Zu diesen gehört «Die rote Hanna» (2018) von Anita Hugi und David Dufresne, mit Animationen von Anja Kofmel. Das Projekt über den Landesstreik von 1918 wird als interaktive Fiktion in Echtzeit beschrieben, die grösstenteils auf historischen Begebenheiten beruht. In die gleiche Sparte gehört «Begrabe mich, mein Schatz» (2017), eine von Arte koproduzierte interaktive Fiktion für Smartphones, die auf einem Artikel in «Le Monde» basiert und wo der Spieler – Zuschauer kann man ihn nicht mehr nennen – via WhatsApp eine junge Migrantin auf ihrer Reise begleitet.

Die Technologie entwickelt sich so schnell, dass WhatsApp in ein paar Jahren vielleicht schon nicht mehr existiert. Wer benützt heute noch MySpace? Wer erinnert sich noch an  den MSN Messenger, an CaraMail oder FormSpring? In einem audiovisuellen Umfeld, wo sogar an den sparsamsten Projekten mehrere Jahre gearbeitet wird, «muss man nicht mit der Zeit gehen, sondern seiner Zeit voraus sein», lautet David Dufresnes Analyse. «Man muss in die Zukunft schauen, sich fragen, wie die Technologie künftig verwendet wird und wie man dies für die Erzählung nutzen kann.» Auch akzeptieren, dass man manchmal daneben liegt.

 

▶  Originaltext: Französisch

Innovationsförderung

Cinéforom lanciert in Kürze einen neuen Wettbewerb für untypische Projekte, die moderne Technologien verwenden und neue audiovisuelle Ausdrucksformen schaffen. Unter dem Titel «Innovationsförderung» wird das Programm, das im Rahmen von Visions du Réel näher vorgestellt wird, während dreier Jahre laufen. Das Preisgeld stammt aus der selektiven Förderung sowie einem Beitrag der SRG. Die eingereichten Projekte werden jährlich von einer Ad-hoc-Expertenjury bewertet.

Der Wettbewerb wurde im Rahmen der Weiterentwicklung der Stiftung 2021-2025 ins Leben gerufen und zeigt die Öffnung gegenüber neuen Ausdrucksformen. Gérard Ruey betont, dass zur dauerhaften Weiterführung eines solchen Förderinstruments zusätzliche Mittel nötig sind. Deshalb gibt es zunächst eine Testphase, deren Ergebnisse und Erfahrungen der weiteren Mittelbeschaffung dienen sollen.

 

Aperitif Cinéforom und Zürcher Filmstiftung

Samstag, 6. April, 17.30 - 19.00

Village du Réel – le Club

Auf Einladung

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