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Die virtuelle Realität wird gerade erst erfunden

Pascaline Sordet
27. September 2019

Eine Riesin aus «VR_I» von Gilles Jobin, einem choreographischen Virtual-Reality-Stück. © Gilles Jobin

Die neue Kulturbotschaft öffnet sich den interaktiven Medien, wobei sie den Schwerpunkt auf  Videogames legt. Produzentinnen und Distributoren von virtueller Realität und immersiver Kunst warten derweil auf eine engagiertere Politik.

Die Schweiz exportiert. In Sachen Film vielleicht nicht so viel, wie sie es sich wünschte, doch im Digitalbereich sind die Erfolge beachtlich (aber das mediale Echo winzig).

Caecilia Charbonnier und Sylvain ­Chagué, die Gründer von Artanim, lancierten Dreamscape Immersive im Jahr 2016 und exportieren ihre Technologie, die Virtual Reality, Motion Capture und Storytelling kombiniert, in die ganze Welt. Investoren in dieses Start-up sind die amerikanischen Studios Fox, Warner Bros., MGM, sowie Steven Spielberg und AMC Entertainment. In einem Porträt des Unternehmens schliesst Le Temps: «Was die Finanzierung durch den Bund betrifft, so ist diese praktisch inexistent.»

Die Zürcher Tobias Weber und Baptiste Planche, Entwickler der Technologie Ctrl Movie, die Storytelling in mehreren Strängen ermöglicht, hatten schon mit «Late Shift», dem ersten Film mit Multiple Choice, auf sich aufmerksam gemacht. Lange suchten sie nach Investoren, bis dann schliesslich die Invest­mentgesellschaft Aviron Capital mit Sitz in Beverly Hills im Frühjahr 2018 mit einstieg. Gleich danach verkündete Century Fox, sie werde die Technologie aus der Schweiz für einen Langfilm einsetzen. Pro Helvetia und SRF unterstützten die Entwicklung dieser Technologie, während das Bundesamt für Kultur das Projekt ablehnte, weil es keinem gängigen Filmformat entspreche, sagt der Journalist Marc Bodmer. So viel zur Innovation!

 

Videogames oder gar nichts

Zwei Beispiele, zwei Seitenhiebe in Richtung Bundesbern, dessen neue Kulturbotschaft die Digitalisierung weiterhin als Schwerpunktbereich festlegt. Seit deren Aufkommen gelten Design und interaktive Medien im Bereich «Kreation und Innovation» als ­prioritär. Ebenso wird das seit 2016 erfolgreich aufgebaute Programm «Kultur & Wirtschaft» mit den beiden Förderschwerpunkten Design und interaktive Medien (Games) in die regulären Förderaktivitäten integriert. Es ist dabei die Absicht des Bundes, die entsprechenden Massnahmen in der nächsten Förderperiode zu intensivieren, um das Potenzial an jungen Designerinnen und Designern sowie Game­entwicklerinnen und -entwicklern auf dem Weg zu internationaler Anerkennung zu begleiten. Ein schönes Programm, das versucht, die Kreativbranche und die Kultur einerseits, die Investoren in Innovation und in die Technik andererseits miteinander zu verbinden.

Erfreulich? Ja, aber es gibt ein Aber in Form einer Klammer, die präzisiert, dass die Bezeichnung «Design und interaktive Medien» die Videogames betrifft. Doch wo bleiben die Augmented, Virtual oder Mixed Realities? Das interaktive Storytelling fürs Web? Die immersiven Erfahrungen?

Emmanuel Cuénod, der Direktor des Geneva International Film Festival (GIFF) – einer der wichtigsten Anlässe für digitales Schaffen –, führt dieses Fehlen auf ein Definitionsproblem zurück: «Wir haben unsere Fördersysteme in die falsche Richtung gelenkt, indem wir zwischen Narration und Interaktion eine künstliche Grenze gezogen haben. Diese Unterscheidung ist für die immersiven Künste sinnlos, denn diese können sich mit dem Film und dem Videogame überschneiden. Es geht nun darum, diese Grenzen zu klären, damit die Kreativen und Produzenten wissen, wo sie einreichen müssen, ohne das Risiko einer zweifachen Ablehnung einzugehen.»

Trotz aller Bemühungen – das BAK hat eine Transmedia-Kommission gebildet – gibt es Kollisionen, einerseits zwischen den Anlaufstellen, die getrennte Schalter und distinkte Kriterien brauchen, um funktionieren zu ­können, anderseits zwischen den Projekten, die die Kriterien sprengen. Hélène Faget, Produzentin bei Tell Me The Story, eine auf narrative und immersive Inhalte spezialisierte Produktionsfirma, spricht aus eigener Erfahrung: «Es gibt Initiativen von Seiten der Institutionen, doch es bleibt eine gewisse Verwirrung. Wir haben beim BAK drei Dossiers für dasselbe Virtual-Reality-­Projekt eingereicht, weil nicht klar war, welche Kommission es beurteilen würde: Animation oder Trans­media.»

 

Ein Definitionsproblem

Das Grundproblem sei nicht die Funktions­weise der verschiedenen Anlaufstellen, sondern die ungenügende Finanzierung: «Wir produzieren Projekte, von denen die meisten Animation und neue Technologien verbinden und eine lange Entwicklungsphase benötigen, müssen jedoch mit Budgets eines Autoren-Dokumentarfilms auskommen... Man weiss heute noch nicht, ob diese Formate das Publikum überzeugen: Sie existieren und verbreiten sich. Uns fehlt eine Harmonisierung der verschiedenen Förderungen für die Produktion, in der Schweiz und für Koproduk­tionen.»

Damit diese Kreationen ernsthaft unterstützt werden, müssen wir uns einigen, worüber wir sprechen oder akzeptieren, dass wir dies noch nicht können und dass Innovation eine gewisse Flexibilität voraussetzt. Von «Digitalkultur» zu sprechen, wäre für Emmanuel Cuénod ein guter Ansatz, um diesen Bereich zu benennen, der sämtliche Formen der digitalen Revolution umfasst, die Wissen und Technologie sowie eine künstlerische Sicht auf die IT-Werkzeuge erfordern. Eine Benennung, die öffnet, statt eingrenzt.

Der Direktor des GIFF möchte bei dieser Öffnung der Formen noch weiter gehen und plädiert für ein nationales Zentrum, das die Fachkenntnisse aus Kino, Fernsehen, Web, Digitalproduktion und Virtual Reality vereinen und die Hybridisation mit anderen Bereichen unterstützen würde. «Heute muss man radikaler auftreten und vom neuen Audiovisions­schaffen sprechen. Wir haben noch nicht aus der fragmentarischen und fragmentierten Bundessubvention herausgefunden, dem Erbstück aus den 60er-Jahren.» Im Gegensatz dazu erwähnt er die Innovationsbemühungen der Regionalfonds, insbesondere die neue Finanzhilfe Cinéforom, deren Ergebnisse im November am GIFF bekannt gegeben werden.

 

Die Presse berichtet wenig

Der Choreograf Gilles Jobin, Urheber des Stücks «VR_I» und selbsternannter Virtual-­Reality-Evangelist, macht die gleiche Beobachtung: «Im Tanz bin ich sehr gut unterstützt, solange ich mein Fachgebiet nicht verlasse. Die Institutionen versuchen, die Zuständigkeiten und Bereiche voneinander abzugrenzen, obschon es gerade die hybriden Formen sind, die Virtual Reality ausmachen. Ich glaube, man muss die virtuelle Realität aus der Welt des Films herausnehmen und eine Anlaufstelle schaffen, die mit anderen Fonds arbeitet und der Innovation Raum bietet. Seit Jahren nutzen die Theater Videoprojektionen, und die Kunstzentren bauen das bewegte Bild in ihre Programme ein. Viele visuelle Künstlerinnen und Künstler realisieren höchst interessante Arbeiten, doch diese sind ausserhalb ihres Fachbereichs nicht wahrzunehmen.» Die virtuelle Realität steckt noch im Entwicklungsstand von Méliès, fügt der Choreograf bei, «wir beginnen erst, zu erfinden».

Jobins Virtual-Reality-Stück hatte grossen Erfolg, tourte durch 20 Länder und war sowohl in Sundance als auch in Venedig zu sehen, da beide Festivals spezielle Sektionen eingeführt haben. Für den Choreografen ist das Problem aber nicht rein finanzieller Natur: «Wenn ich «VR_I» in Venedig in einer renommierten ­Sektion zeige, kommt kein Mensch. Die Presse berichtet wenig darüber, und es lässt sich kein offizieller Vertreter blicken.» In ihrer ­Stellungnahme zur Kulturbotschaft bedauern die Akteure des digitalen Audiovisionsschaffens, dass die einzige Bezugnahme auf die immersiven Künste und insbesondere auf Virtual Reality über die Games erfolgt. Für Gilles Jobin, Unterzeichner des Textes, ist dies keine Geringschätzung, sondern Ignoranz.

Insofern ist die Stellungnahme kein Angriff auf Videogames. Für den Direktor des GIFF müssen diese durchaus unterstützt werden, sie sind aber nicht der einzige digitale Player: «Wir haben die Videogames zu stark forciert, indem wir sagten, dass es für die Schweizer Kreationen einen Markt gibt. Das ist eine fromme Lüge, und ich bereue sie. Die Kulturbotschaft ist noch in der Vernehmlassung, und wir reagieren, weil sie unbegründete Grenzen setzt.» Der Kern der Sache: Es braucht mehr Geld.

 

Aufführungsorte brauchen Unterstützung

Alle diese Fragen betreffen die Produktion von Werken. Doch damit diese gesehen, geschätzt, beurteilt und geteilt werden, braucht es Aufführungsorte. In der Schweiz übernehmen die Filmfestivals diese Funktion, zumindest jene, die Sektionen für neue digitale Kreationen eingeführt haben, wie beispielsweise das NIFFF, Ausstellungsräume wie das 2011 gegründete Haus der elektronischen Künste in Basel oder das MuDA, das Museum of Digital Art, das 2016 in Zürich eröffnet wurde. Das GIFF gilt mit seinen internen und externen Programmen als digitaler Antreiber.

Nach Meinung der Vertreter von Digital­kultur sollten diese Orte eine gezielte institutio­nelle Unterstützung ausserhalb der Sektion Film erhalten. «Von digital und innovativ reden viele Politiker. Doch sobald sie mit einem Projekt konfrontiert sind, das die Kosten für Mitarbeitende, Logistik, Technik und Koordination auflistet, glänzen alle durch Abwesenheit.» Widerspiegelt das ein desinteressiertes Publikum? Die Frage lässt Emmanuel Cuénod aufspringen: «All die Menschen, die anstehen, um mit ‹Birdly› zu experimentieren, wollen nicht einfach rumalbern, sondern das Gerät nutzen, um ein Gefühl vom Fliegen zu haben. Es handelt sich nicht um ein Kinderspielzeug, vielmehr ist Fliegen seit Ikarus einer der ältesten Träume des Menschen. Und nun haben einige Zürcher ihn verwirklicht!» Auch dem Film hielt man ­früher vor, er sei bloss ein Jahrmarkt-Spass.

Das GIFF findet vom 1. - 10.11. , der Geneva  Digital Market vom 4. - 8. 11.  statt

 

▶  Originaltext: Französisch

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