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Uneitle Selbstbespiegelung

Bettina Spoerri
06. April 2021

Frank Matter (© Adrian Jost)

Mit Frank Matters Dokumentarfilm «Parallel Lives» (CH 2021) erübrigt sich die Frage, wann und wo er geboren sei – denn sein Film basiert auf der Kernidee, vier Menschen mit demselben Geburtstag wie er selbst über ihr Leben zu befragen: dem 8.6.1964. Während Matter aus Sissach BL stammt und dann in Basel-Stadt wohnte, sind die ProtagonistInnen über den Erdball zerstreut: eine amerikanische Soldatentochter, nach Jahren der Rebellion mit einem Marine verheiratet, eine Innenausstatterin, die im südafrikanischen Post-Apartheid-Staat beinahe resigniert, ein Chinese zwischen Kulturrevolutions-Kindheit und Wirtschaftsboom und ein vom Aufwachsen mit brutalem Vater gezeichneten Kleiderdesigner. 

In vielerlei Hinsicht könnten diese Existenzen kaum unterschiedlicher sein – doch Gravitätszentrum ist der Filmemacher selbst. Zwischen den vier Geschichten konturieren sich seine Lebensstationen, Umbrüche und Fragen: Wie bin ich, wie ist ein Mensch der geworden, der er – mit über 50 Jahren – ist? Kann man sich von Prägungen lösen? Matter gelingt eine intelligente, uneitle Selbstbespiegelung, die seine Existenzbedingungen in den weiten Bezugskontext der 1960er-Generation stellt.

Wir treffen uns wegen Corona zu einem Zoom-Meeting. Persönlich begegnet sind wir uns auf der Bühne zur Premiere des von seiner Firma soap factory produzierten Dokumentarfilms «Thomas Hirschhorn – Gramsci Monument» von Angelo A. Lüdin an den Solothurner Filmtagen 2015 – die Erinnerung an eine vollbesetzte Reithalle wirkt aus heutiger Sicht überwältigend. «Wir hofften, dass wir ‘Parallel Lives’ in Nyon mit grossem Publikum im Saal feiern könnten, doch das wird wahrscheinlich nicht möglich sein», sagt Matter. Es gebe zudem einen wachsenden Rückstau bei den Filmstarts, das betreffe auch Filme aus seiner factory; so warten «I’ll be your mirror» von Johanna Faust und «Arada» von Jonas Schaffter seit Mai 2020 auf den Release. Soap factory heisse die Firma sozusagen programmatisch «gegen das Sich-selber-zu-ernst-Nehmen … irgendwo zwischen Warhol und soap opera». 

 

13 Jahre New York...

Die ruhige, bescheidene, gleichzeitig selbst­­ironische und selbstbewusste Art von Frank Matter, die mir von jener persönlichen Begegnung im Gedächtnis geblieben ist, zeigt sich auch jetzt wieder. Er ist kein Freund der grossen Worte, meidet das Plakative, auch als Filmautor und Produzent. Sein Anliegen sind Filme zu komplexen Themen mit gesellschaftspolitischem Impetus, die verschiedene Sichtweisen aufzeigen und Gedankenarbeit einfordern. Diese Suche spiegelt sich in seiner Biografie. Die Jugendbewegung der 1980er wirkte auch bei ihm als Initialzündung. Im Gegensatz zu seinen Brüdern, die den Berufsweg Banker einschlugen, begann er als Journalist zu arbeiten, reiste viel, so öfter nach Afrika und Asien, und einmal wäre er beinahe nach China ausgewandert. Kurz vor dem Mauerfall war er noch in der DDR, 9/11 erlebte er in Brooklyn, wohin er 1993 mit einem Journalistenvisum gezogen war. «New York entdeckte ich für mich eher per Zufall», sagt er: «Die Stadt erlebte ich wie eine warme Badewanne, das Gefühl stimmte einfach.»

Aus sechs Monaten wurden 13 Jahre. Eine lange Zeit, ein Viertel seines bisherigen Lebens, in der er immer mehr seiner Passion, dem Film, nachlebte. «Ich war Kamera-, Regie-, Licht­assistent und mehr bei Indie-Produktionen, alles, was es eben brauchte.» Doch die Kenntnisse für seinen Schritt in die Selbstständigkeit als Regisseur und Filmproduzent hatte er sich bereits früher anzueignen begonnen. 1993 entstand ein erster kurzer Spielfilm, «Hannelore», den er mit seinem Basler Freund Michael Luisier drehte, der erste Langspielfilm, «Morocco», entstand 1996. 

 

.... dann die Rückkehr

Die Rückkehr nach Basel 2006, sagt er mit Humor, sei «schrecklich» gewesen: «Die Stadt erschien mir wahnsinnig klein, und es war so leise, dass ich nicht schlafen konnte.» Doch die Dokumentarfilmszene faszinierte ihn und er konnte schnell an ein bestehendes Netzwerk anknüpfen. 2010 kam der Erfolg mit «Nel giardino dei suoni» von Nicola Bellucci, und seither hat sich die Produktionstätigkeit stetig gesteigert. Zu produzieren, sei ein zweites Standbein, das ihm mehr Freiheit gebe – und die Zusammenarbeit gerade auch mit jüngeren Filmschaffenden bedeute «neuen Sauerstoff». Diese wiederum schätzen ihn als Produzent. Jonas Schaffter sagt: «Wenn man durch die Höhen und Tiefen bei der Entstehung eines Films geht, wünsche ich jeder Regie einen Produzenten wie Frank – ein wunderbarer Mensch, der mir in jederlei Hinsicht den Rücken stärkte, stets mit Rat zur Seite stand und mir trotzdem viel Raum zur Entfaltung gab.»

Sitz der soap factory und Wohnort von Frank Matter ist Kleinhüningen; er zeigt mit Begeisterung in die Ferne: «100 Meter in die Richtung liegt Frankreich, 150 sind es bis Deutschland.» Das Gebiet am Dreiländereck, wo die Stadtentwicklung weiter geht, passt zu seiner neugierigen, grenzüberschreitenden Arbeitsweise, in der sich Leben und Schaffen verschränken. Ich verabschiede mich mit dem Gefühl: Hier hat einer mit den richtigen Fragen einen grossen Schritt näher zu sich gefunden.


▶  Originaltext: Deutsch

Visions du Réel

«Parallel Lives» (CH 2021)

Frank Matter

Nationaler Wettbewerb

www.visionsdureel.ch

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