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Lugano ist seine Stadt

Pascaline Sordet
11. Februar 2021

Niccolò Castelli, Regisseur, Leiter Ticino Film Commission

Bei den Solothurner Filmtagen sind die witzigen Reden des Alain Berset gegen die heitere Miene Guy Parmelins eingetauscht worden, der Apéro riche gegen Pantoffeln. Niccolò Castelli, dessen zweiter Spielfilm «Atlas» den Jahrgang eröffnete, will vom Jammern nichts hören: «Ich bin zufrieden, dass wir die Einladung angenommen haben, das ist ein gutes Schaufenster für den Film.» Weil der Eröffnungsabend live übers Internet und auf allen SRG-Kanälen übertragen wurde, ist er möglicherweise von einem weit grösseren Publikum gesehen worden als von der üblichen Solothurner Premierenschar. Castelli bedauert  dennoch, dass es diesmal «nicht den einzigartigen Moment der allerersten Begegnung mit dem Publikum gab, und man nicht recht weiss, wie und wann es den Film gesehen hat – nach sieben Jahren Arbeit.»

«Atlas» folgt der langsamen Erholung von Allegra, der Überlebenden eines Terroranschlags, bei dem drei Freunde getötet wurden und der sie zurückliess in einer zerstrittenen Familie, mit einer verständnislosen Mitmieterin und verfolgt von schweren Ängsten. Mit diesem Film erkundet Niccolò Castelli ein weiteres Mal Lugano, seine Stadt. Schon «Tutti Giù», sein erster Spielfilm von 2012, spielt dort, hauptsächlich nachts. Eine naheliegende, aber bewusste Wahl: «Wir zeigen, dass wir Geschichten und interessante Schauplätze zu bieten haben, dass es ein urbanes Lugano gibt und Thriller in Chiasso.» Er ist übrigens dabei, eine Geschichte zu schreiben, die im Finanzmilieu Luganos spielt, eine weitere Facette des Landesteils, für den er sich einsetzt. Der Filmemacher hat Erfahrungen mit Musikvideos gesammelt, in Bologna studiert,  an der Zürcher Hochschule der Künste einen Master in Film gemacht und schliesslich in München die Drehbuchwerkstatt besucht. «Ins Tessin zurück kam ich vor allem, um zu arbeiten. Ich wollte als Regieassistent einige Erfahrungen sammeln und dann wieder gehen. Dann aber merkte ich, dass es mir hier gut gefällt: es ist ein höchst anregendes Umfeld, das noch etwas unverbraucht ist. So war es dann eine klare Wahl, mich hier niederzulassen und viel herumzureisen.»

 

Eine Equipe aus Freunden

Mit «Atlas» hat erstmals ein Film aus dem Tessin die Filmtage eröffnet, ein Zeichen auch für das gewachsene Ansehen des italienischsprachigen Films der vergangenen Jahre. Die Erfolge von «Cronofobia» und «Love Me Tender» bei der Kritik haben hier vorgespurt. «2008, bei ‹Sinestesia›, waren wir hoch motiviert, hatten aber noch nicht das Wissen und die Erfahrung. Wir improvisierten; jeder arbeitete in mehreren Funktionen. Von Film zu Film und bei der gegenseitigen Mitarbeit machten wir Fortschritte – sowohl  handwerklich wie gestalterisch und in der Produktionsarbeit. Wir haben in den vergangenen zwei Jahrgängen der Solothurner Filmtage und in Locarno gezeigt, dass das Tessiner Filmschaffen eine beachtliche Reife erlangt hat.» Dass sein Film die Filmtage eröffnet hat, sieht Niccolò Castelli nicht nur als einen Erfolg für sich selber, sondern auch für seine ganze Generation von Technikern und Kreativen.

«Sinestesia» von Erik Bernasconi taucht verschiedentlich auf in unserem Gespräch. Produziert worden ist er von Villi Hermann, dieser Patenfigur für die jungen Tessiner, der auch «Atlas» produziert hat (als Ehrengast der Rencontre stand Hermann in Solothurn ebenfalls im Mittelpunkt). Bernasconis Film hatte Niccolò mit seiner Equipe zusammengeführt: mit Villi Hermann, Regisseur Erik Bernasconi, der Produktionsleiterin Michela Pini und dem Kameramann Pietro Zürcher. Dieser erzählt uns: «Wir waren 25, 30 Leute, die zusammen den Film machten, lauter Profis, aber noch sehr jung. Wir hatten viel Spass und wurden enge Freunde. Niccolò hat viele Talente. Schon mit 14 Jahren hat er beim Radio gearbeitet; er macht Politik, ist ein guter Kletterer und Skifahrer, ist Drehbuchautor. Er war immer engagiert und ist es geblieben.»

 

Neuer Leiter der Ticino Film Commission

Die Strukturen der Tessiner Filmszene bleiben fragil. Niccolò Castelli erwähnt, dass es hier kein Cinéforom gibt und sich das unabhängige Filmschaffen statt auf drei nur auf zwei Pfeiler stützen kann: auf das Fernsehen und den Bund. Sein grosses Bedürfnis, etwas zur Stärkung und zum langfristigen Erhalt seines Métiers beizutragen, hat ihn bewegt, die Leitung der Ticino Film Commission zu übernehmen, eine 40-Prozent-Stelle. Die grosse Aufgabe, die ihn hier erwartet, besteht darin, weitere Partnerschaften zu finden, um der Audiovision mehr Mittel zu sichern. Obzwar Covid die Filmschaffenden hart getroffen hat, entwickelt sich unter den Jungen auch eine gewisse Hoffnung: «Unsere Generation hat viele Probleme durchgestanden, eine Finanzkrise und jetzt eine Pandemie. Ich denke, daraus wird ein starker Wille wachsen, fürs Filmemachen zu kämpfen.» So weit es ihn angeht: er ist schon daran.

▶  Originaltext: Französisch

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