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Rauschhaft, beglückend. So soll Kino sein

Kathrin Halter
16. Mai 2019

Nicole Reinhard, Kino- und Festivalleiterin (Bild: Piotr Dzumala)

Nicole Reinhard empfängt in ihrer hellen, offenen Wohnung, auf dem Esszimmertisch liegen Karten mit Filmstills und handgeschriebenen Notizen – eine erste Auslegeordnung für «Bild­rausch», das Basler Filmfestival. Gerade noch war Beat Schneider hier, Nicole Reinhards Kollege, mit dem sie neben dem Stadtkino Basel seit neun Jahren auch das Festival leitet, das auf dem Tisch sichtbar Konturen annimmt. Vom 19. bis 23. Juni ist es wieder soweit.

Man hat die Kuratorin und Festivallei­te­rin als intellektuell fundierte, dabei begeisterungsfähige, empathische Persönlichkeit in Erinnerung, eine Frohnatur geradezu mit ihrem hellen Lachen. Ihr Flair für Extra­vaganz kommt auch ihren öffentlichen Auftritten zugute – ein schöner Kontrast zur tendenziell grau melierten Garderobe der Schweizer Filmszene. Reinhards filmischer Horizont ist breit und reicht vom Arthouse- und Kunstkino, dem sich ­«Bildrausch» verschrieben hat, über die Klassiker und Retrospektiven, die fester Bestandteil des Stadtkinos Basel sind. Sie hat aber, wie sie sagt, auch eine grosse Schwäche für Horrorfilme und anderes Genrekino. Im Wohnzimmer steht ein Drehgestell, ein Überbleibsel aus der DVD-Epoche, von einem Umschlag blickt Pier Paolo Pasolini. Film ist das halbe Leben. 

 

Pausenlos dabei bei Festivals und Filmklubs

Aufgewachsen ist Reinhard in Kerns im Kanton Obwalden. Die Eltern betrieben ein Geschäft für Flachbedachungen, der Vater war oft monatelang im Ausland. Er starb, als Nicole 25 Jahre alt war. Sie besuchte wie ihre Schwester das Gymnasium in Sarnen, mit Fünfzehn trat sie in den dortigen Filmclub ein, ging oft nach Luzern ins Kino. Dass aus dieser frühen Begeisterung einmal ein Beruf werden könnte, konnte man sich hier nicht vorstellen. Reinhard begann zunächst ein Studium in Sozialarbeit in Fribourg, machte die Dolmetscherschule und arbeitete ein Jahr lang im Beruf; intellektuell fühlte sie sich aber ausgehungert. Also begann sie mit 27 noch ein Studium an der Universität Zürich, mit Abschluss dann in Geschichte, Ethnologie und Filmwissenschaft. Wichtig wurden vor allem Filmprofessorin Christine Noll Brinckmann und Michael Oppitz, der Ethnologieprofessor, die ihr beide «den Kopf geöffnet» haben, wie sie sagt, «eine Erleuchtung fürs Leben».

Schon vor und während des Studiums engagierte sich Reinhard pausenlos an Festi­vals und Filmclubs: Von 20 bis 24 an der Viper, dem damaligen Festival für Video und Experimentalfilm in Luzern und beim Xenia, dem Filmclub (nur!) für Frauen vom Zürcher Kino Xenix – ein Ort, wo man leicht einsteigen konnte, wenn man, wie Reinhard damals, eher schüchtern war. 

Dann ging sie zu den Winter­thurer Kurzfilmtagen, von 1999 bis 2005, eine «grossartige Zeit». Das war in der Frühphase des Festivals, als eine basisdemokratische «Koordinationsgruppe», die vor allem aus Freunden bestand, sich um praktisch alles kümmerte – weitgehend ehrenamtlich, versteht sich. In einer Recherche entdeckte sie die «Stacheltiere», eine Reihe vergessener satirischer Filme aus der DDR, die in den Fünfzigerjahren in Kino-Vorprogrammen liefen und ein kontrolliertes Ventil boten; daraus enstand ein Spezialprogramm und schliesslich die Lizentiats­arbeit.

 

Ans Stadtkino Basel

Vierzehn Jahre sind es mittlerweile her, seit Reinhard das Stadtkino Basel leitet. Seither ist viel geschehen: Das Kino wurde renoviert, 2008 die Kinemathek Le Bon Film gegründet, 2011 kam «Bildrausch» hinzu.  Weshalb die Gründung einer Kinemathek? Von einem privaten Sammler konnte eine Filmsammlung mit rund tausend Kopien gekauft werden; inzwischen besitzt Le Bon Film etwa 1ʼ500 Kopien.

Eine eigene Sammlung war auch deshalb wichtig, weil Filmarchive wie die Cinémathèque suisse fast keine Kopien mehr herausgeben, da von älteren Filmen oft nur noch Unikate vorhanden sind. Dank der Kinemathek haben sich auch Kontakte mit Sammlungen in Österreich, Helsinki oder Belgien ergeben, die dem Stadtkino seither (gratis) Kopien ausleihen. Vorher war dies kaum möglich. Das Feilschen um Kopien bleibt für Programmkinos auch deshalb lebenswichtig, weil die Auswahl an älteren Filmen, die restauriert und digitalisiert als DCP erhältlich sind, immer noch sehr begrenzt ist. Da geschieht gerade eine «zweite Kanonisierung» der Filmgeschichte, wie sich Reinhard ausdrückt.

Am meisten Energie fliesst im Alltag jedoch mittlerweile in die Geschäftsführung des Kinos. Natürlich hätte sie lieber mehr Zeit für den krea­tiven Teil ihrer Arbeit, das Einarbeiten und Eindenken in ein filmisches Werk – wie jetzt gerade bei der Filmreihe zu Walter Marti und Reni Mertens, die im Rahmen von «Bild­rausch» entsteht, mit Gästen natürlich und einem Rahmenprogramm. Das ist es, wofür sie brennt.

Und sonst, gibt es ein Leben jenseits des Films? Neben dem Wohnzimmertisch steht ein Akkordeon, das auch schon häufiger gespielt wurde. Nicole Reinhard erwähnt ihren Freund aus Berlin (ein Filmverleiher), das rege Sozialleben. Die Liebe für Blumen (auf dem Balkon). Das Essen. Die Musik! Und macht sich wieder an die Arbeit.

 

▶  Originaltext: Deutsch

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