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Mit einem Minimum an Dialogen

Muriel Del Don
02. April 2020

Michele Pennetta, Regisseur (© Olga Cafiero)

Als Michele Pennetta am Bahnhof von Nyon eintrifft, ist das Wetter regnerisch und launenhaft, aber er scheint es nicht zu bemerken. Mit ansteckendem Lächeln und knallbuntem Schal empfängt uns der junge italienische Regisseur und Wahl-­Lausanner begeistert in seiner Welt. Obwohl er eben erst aus Rom zurückgekehrt ist, wo er nach intensiver Produktionsphase «Il mio corpo» fertiggestellt hat, ist er voller Energie. «‹Il mio corpo› stellt eine Art Bruch in meinem Schaffen dar, eine technische Weiterentwicklung, aber auch eine Veränderung bezüglich der Crew, die mich während der Dreharbeiten begleitet hat», erklärt er unaufgeregt. So ist die Zahl der Mitwirkenden im Vergleich zu seinen vorherigen Filmen («A Iucata» und «Pescatori di corpi») gestiegen, was ihm ermöglicht hat, mit den unvermeidlichen Überraschungen gewandter umzugehen und ein noch engeres, tieferes Verhältnis zu seinen Protagonisten aufzubauen.

Für Michele Pennetta gäbe es ohne Menschlichkeit kein Kino. Er meint damit nicht Sentimentalität, vielmehr die vernachlässigte, starke oder fragile Menschlichkeit seiner Protagonisten. «Ich glaube, die Fähigkeit, in ‹schwierige› Milieus einzudringen, ist seit je eine meiner Stärken», sagt er, als würde er zum ersten Mal darüber nachdenken. Sein jüngster Film «Il mio corpo» beweist das erneut.

 

Von der Brera ins Tessin und nach Lausanne

Die berührende Zerbrechlichkeit und Komplexität der Protagonisten Pennettas spiegelt  sich auch in seinem filmischen Bildungsweg, der auf zufälligen, aber entscheidenden Begegnungen, auf Irrtümern, die sich später als Chancen erweisen, und auf Erfahrungen auf Reisen an unbekannte Orte basiert. Obwohl er in der Nähe von Luino, fernab vom Glanz von Cinecittà, geboren wurde, ist das Kino  seiner DNA eingeschrieben, und so nimmt er zunächst ein Studium an der Mailänder Kunstakademie Brera auf, um nach sechs Monaten an die Tessiner Fachhochschule SUPSI zu wechseln und schliesslich an der Lausanner Kunsthochschule ECAL zu studieren.

Zur SUPSI fand er ganz zufällig beim Blättern in einem älteren Anzeigenblatt von Varese. Die Anzeige zum Tag der offenen Tür sprach ihn an und animierte ihn, sein Glück zu versuchen. «Es war eine wunderbare Erfahrung, ich habe sehr viel gelernt in den drei Jahren. Ich gehörte einem besonderen Jahrgang an, auch weil er von Gregory Catella geleitet wurde», erklärt Pennetta. Gregory Catella ist eine Schlüsselfigur für seine künstlerische Karriere, eine Art Schutzpatron, dank dem er «wirklich verstanden hat, wie man Kino macht». Ebenso entscheidend für seine Karriere war der Master an der ECAL, der ihm die Begegnung mit zwei anderen Persönlichkeiten des Dokumentarfilms ermöglichte: Claudio Pazienza und Jean-Louis Comolli, die ihn im letzten Studienjahr bei seinem Diplomfilm «I cani abbaiano» betreuen. Dank der Workshops bei ihnen entdeckte Pennetta, was einen «wahren Dokumentarfilm» ausmacht und wie wichtig es ist, einen Standpunkt zu haben.

 

Die Präsenz der Kamera vergessen

Pennetta begnügt sich nicht damit, die Protagonisten seiner Filme einfach zu filmen, er sucht vor den Dreharbeiten eine Verbindung, einen direkten, menschlichen Kontakt. «Ich verbringe vor dem Drehen viel Zeit mit meinen Protagonisten. Im Fall von ‹Il mio corpo› waren es mehrere Monate. Ich begleite sie im Alltag, ohne die Kamera hervorzuholen. Es braucht eine grosse Anstrengung, jenen Grad an Natürlichkeit zu erlangen, nach dem ich suche», gesteht er, als wollte er damit betonen, dass die Dokumentarfilmkunst auch (und vielleicht vor allem) aus Überraschungen und einem immer wieder In-Frage-Stellen besteht.

Die Figuren in Pennettas Filmen zeigen sich den Zuschauern, als wäre kein Mittler zwischen ihnen, sie scheinen die Kamera völlig vergessen zu haben. Vielleicht waren, wie er selbst erklärt, seine sprachlichen Schwierigkeiten (als er für den Master nach Lausanne kam, konnte er kein Wort Französisch) der Grund, warum er Geschichten mit einem Minimum an Dialogen erzählt und das Bild dem Wort vorzieht. Ein Hindernis, das sich in eine Stärke verwandelt hat und ihn dazu trieb, weniger ausgetretene Pfade zu begehen.

Joëlle Bertossa von der Genfer Produktion Close Up Films, seit «´A iucata» Produzentin all seiner Filme, betont sein freundliches Wesen  und die ästhetische Kraft seiner Werke: «Es ist immer ein Vergnügen, mit Michele zu arbeiten. Er ist in seinen Absichten präzis und sehr respekt­voll gegenüber seiner Crew und den Menschen, die er filmt. Sein Schaffen ist feinfühlig und subtil, und seine Filme verströmen eine fragile Schönheit.»

Was sind seine Pläne für die Zukunft? Dass sein jüngster Langfilm «Il mio corpo» in das Programm von Visions du Réel aufgenommen wurde, ist zweifellos ein ausgezeichneter Anfang und eine gute Gelegenheit, sein Schaffen bekannt zu machen. Die Wirklichkeit ist und bleibt für seine Filme der Ausgangspunkt, auch wenn er einräumt, dass er an einem Spielfilm schreibt, der in Italien und im Balkan spielen soll. Mit «Il mio corpo» endet seine sizilianische Phase, doch Italien fasziniert ihn nach wie vor.

 

▶  Originaltext: Italienisch

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