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Filmisches Multitalent, künstlerischer Mensch

Kathrin Halter
06. Januar 2022

Jürg Hassler neben einer seiner Skulpturen. © Solothurner Filmtage / Matthias Günter.

Jürg Hassler ist als Filmemacher, Kameramann und Cutter ein filmischer Allrounder – ein unorthodoxer Linker und künstlerischer Mensch zugleich. Die Filmtage widmen ihm nun ihre Rencontre. 

Wer Jürg Hassler in seinem alten Atelierhaus in Küsnacht besucht, betritt eine ganz eigene Welt. Zuerst gelangt man in einen überdachten, offenen Hof, wo die ersten jener vielen Schachspiel-Skulpturen stehen, die man im ganzen Haus entdeckt und die er seit vielen Jahren schafft. Dann in den wild überwucherten, liebevoll gestalteten Garten, schliesslich in das Atelierhaus, eine ehemalige Scheune, die Hassler während 20 Jahren immer wieder neu umgebaut hat. Alles scheint hier ineinander überzugehen, sich zu einem eigenen künstlerischen Refugium zusammenzufügen. 

Die meiste Zeit lebt der Filmemacher hier, eine Woche im Monat zudem in Paris bei seiner zweiten Frau und seinem Sohn. Geheizt wird in Küsnacht nur das Untergeschoss, so sitzen wir an dem kalten Novembertag dicht neben dem Holzofen, wo Hassler aus seinem fast unüberschaubar reichen Leben erzählt. 

 

Der «Krawall-Hassler» 

Jürg Hassler sagt von sich ja, er habe schon fünfzig Berufe ausgeübt: Er war schon Schauspieler, Tänzer, Fotograf, Bildhauer, Artist und natürlich Kameramann, heute ist er am liebsten Gärtner. Berühmt wurde er 1970 als «Krawall-Hassler», wie er einmal trocken anmerkt, als Regisseur und Kameramann also jenes Bewegungsfilms über den 1968er-Aufstand in Zürich, als es in der Auseinandersetzung um das Globusprovisorium beim Hauptbahnhof zu heftigen Strassenschlachten zwischen Schülern, Studenten und der Polizei kam. Skandalös war vor allem, was sich im Untergeschoss des Gebäudes zutrug, wo bereits Festgenommene teils brutal misshandelt wurden. Der Film rollt auch die juristische und politische Aufarbeitung danach auf. 

Hassler hat sein Filmmaterial damals bei einem befreundeten Anwalt versteckt, da die Behörden rundum Material beschlagnahmten. Der Film kam dann erst 1970 heraus, als Premiere an den Solothurner Filmtagen. Trotzdem wurde «Krawall» danach an Hunderten Veranstaltungen im ganzen Land gezeigt – im Parallelverleih als erster Schweizer Film der neu gegründeten Filmcooperative.  

Seine plötzliche Bekanntheit nutzte Hassler allerdings nicht, um in der gleichen Richtung weiterzuarbeiten. Hasslers übernächster Film, das Künstlerporträt «Josephson, Stein des Anstosses», entstand erst 1977 – und zeigt einen ganz anderen Hassler. Um ihn zu begreifen, muss man weit in seine Kindheit und Jugend zurückblenden. 

1938 geboren, wuchs Hassler in Zürich auf. Sein Vater, Vertreter einer Seifenfirma, wollte immer, dass sein Sohn zu jenem Akademiker wird, den er nicht selber sein konnte. Jedenfalls passte es ihm gar nicht, dass Jürg im Atelier von Hans Josephsohn, das ganz in der Nähe seines Gymnasiums lag, ein- und ausging. Der Künstler wurde für den Gymnasiasten zu einer Vaterfigur und dieser zu seinem Schüler. Beeindruckt hat ihn vor allem Josephsohns Ernsthaftigkeit, «ein Mensch, der absolut in sich stimmte. Und dass er mich nie von etwas überzeugen wollte». 

Nach der Matura besuchte Hassler die Fotoklasse in Vevey, die er nach 2 Jahren abbrach. Er wurde zum Gehilfen beim Bildhauer Silvio Mattioli, schliesslich Steinmetz in Genf und reiste viel, schon 1959 etwa in die Sowjetunion und später nach Süditalien. Fast zwei Jahre lang lebte er als Bildhauer in Neapel. Doch die Bildhauerei entglitt ihm zusehens, er empfand sich als Epigon von Josephsohn und brauchte etwas Eigenes, um sich auszudrücken. Hassler wurde freischaffender Fotoreporter, Reportagereisen führten ihn unter anderem in das Prag zur Zeit des Prager Frühlings und in die DDR. Zwei Fotobücher entstanden über die Schweiz und über Frankreich – gemeinsam mit Cartier-Bresson, worauf Hassler immer noch stolz ist.  

Doch auch die Fotografie genügte ihm irgendwann nicht mehr. Seine Ausbildung zum Kameramann machte er an zwei der legendären Filmarbeitskurse an der Zürcher Kunstgewerbeschule (1967/68) an der Seite von weiteren Exponenten des Neuen Schweizer Films; zu dieser Zeit entstanden auch die Aufnahmen für den erwähnten «Krawall». Da Hassler wieder einmal Geld brauchte, machte er in einem Zürcher Nachtclub die Beleuchtung und entwarf für sich und eine Tänzerin, seine spätere (erste) Frau, eine Artisten-Nummer, die das Paar als Teil einer Erotikshow von Indonesien bis nach Schweden führte. Auch davon hatte Hassler irgendwann genug. Als ihm Josephsohn wieder in den Sinn kam, sei das «wie eine Rettung» gewesen. So überredete er den Bildhauer schliesslich zu seinem Film. 

«Josephson, Stein des Anstosses» (1977) ist ein lebendiges Künstlerporträt ganz ohne falsche Ehrfurcht. Das liegt zum einen am Bildhauer selber. Wenn dieser im Atelier seine Runden dreht, Ton formt, raucht und mit Gips hantiert, dann schaut man einfach hin. Wenn er redet, hört man ihm zu. Und wenn er denkt, dann wird es interessant. Originell ist auch Hasslers Vorgehen, der mehr tut, als einem Meister und Freund ergriffen zuzuhören und dessen Lebensgeschichte zu erzählen. So zeigt er einmal Putzfrauen in einer Joseph­son-Ausstellung, die seine Plastiken vor allem als Staubfänger wahrnehmen. Oder er verwickelt den Künstler immer wieder in Dispute. «Du würdest mir gescheiter helfen als zu filmen!» ruft dieser einmal.

 

Auf den Knien 

Als Mitglied des Filmkollektivs, wo er sich immer etwas am Rande bewegte, schuf Hassler mit Fosco und Donatello Dubini noch den Interventionsfilm «Gösgen. Ein Film über die Volksbewegung gegen Atomkraftwerke» (1978), der ihn filmisch nicht ganz befriedigte. Danach begann für Hassler gewissermassen eine zweite Filmkarriere: Fortan wurde er immer wieder als Kameramann oder auch als Editor angefragt, für Filme von Richard Dindo, Christian Schocher, Lisa Fässler oder des afrikanischen Filmemachers und Freundes S. Pierre Yaméogo. 

Am wichtigesten wurde seine Zusammenarbeit mit Thomas Imbach, mit dem er während 25 Jahren an elf Filmen beteiligt war. Der für Hassler wichtigste Imbach-Film ist «Ghetto» (1997), ein pulsierendes Porträt Jugendlicher aus Zürich, das damals für viele als Bild einer ganzen Generation taugte. Benutzt haben Hassler und Imbach jene damals relativ neuen leichten Handycams, die zu den Protagonisten eine maximale Nähe ermöglichen: Hassler lag so lange am Boden oder auf den Knien, bis die Gefilmten ihn ganz vergassen. So hoffte und zielte er auf Augenblicke von Wahrhaftigkeit, einzigartige Momente, die etwas von der Persönlichkeit einer Figur aufblitzen lassen – etwas, das Hassler schon in der Fotografie gesucht hatte. In «Ghetto» gelang ihm dies zum Beispiel einmal, als er das Erröten eines Mädchens einfangen konnte: «Das war für mich das Grösste». Hinzu kam eine serielle Montage, in der sie etwa Grossaufnahmen von Gesichtern dynamisierten. Entwickelt haben Imbach und Hassler ihren Stil bereits in «Well Done» (1993). Eine ihrer Thesen war schon damals: «Habe keine Angst, bei laufender Kamera einzuschlafen» ­– Hauptsache, das Abwarten lohnt sich. Hinzu kommt eine maximale Beweglichkeit und Flexibilität, die sich blitzschnell neuen Situationen anzupassen weiss:  «Ich schaue jeweils und reagiere». Über seine Beziehung zu Imbach sagt er: «Thomas sah formaltheoretisch klarer, ich selber war vitaler, kindlicher und vielleicht näher am Leben. So haben wir uns gegenseitig hochgeschaukelt.» Imbach sieht es so: «Jürg war immer sehr begeisterungsfähig, neue Wege einzuschlagen; das Gegenteil vom ‹Profi›, der sagt, das kannst du nicht machen. Und natürlich war unser Generationenunterschied ein wichtiger Ansporn.» 

So viel Selbstvergessenheit vor der Kamera wie in «Ghetto» hat Hassler womöglich nur noch in einem eigenen Film eingefangen. In «Welche Bilder, kleiner Engel, wandern durch dein Angesicht?» sind es die konzentrierten Gesichter von Kindern, die beim Spielen und Musizieren beobachtet werden. Der Dokumentarfilm ist, neben «Krawall» und «Josephsohn», der dritte von Hasslers liebsten eigenen Filmen. Er wird auch in Solothurn gezeigt, wo der Film bei seiner Uraufführung 1986 einst ausgepfiffen wurde. Gute Gelegenheit für eine neue Würdigung.   

 

Originaltext Deutsch

 

Solothurner Filmtage: Rencontre Jürg Hassler

Rahmenveranstaltungen:

«Kunst kommt von Pröbeln»

Julia Zutavern befragt Jürg Hassler nach seinem Werdegang,

Deutsch mit französischer Simultanübersetzung.

22. Januar, 17.00-18.00, Kino Palace, Solothurn

 

Film-Brunch: Bewegungsfilm damals und heute

Mit Jürg Hassler und Frédéric Choffat u.a. 

Deutsch und Französisch mit Simultanübersetzung. 

23. Januar, 10.00-11.30, Barock Cafe, Solothurn 

 

Jürg Hasslers Schachobjekte

Freitagsgalerie Imhof, Kreuzgasse 5, Solothurn 

täglich 16-20 Uhr

 

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