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Direkt, klug, selbstbewusst

Andreas Scheiner
21. Juni 2019

Noemie Schmidt (Bild: Carole Bellaiche)

Sie wollten nur kurz eine Kamera testen. Am Ende hatten die Schauspielerin Noémie Schmidt, aus Sitten, und ihre Mitbewohnerin Elisabeth Vogler, eine aufstrebende Regisseurin und Kamerafrau, einen abendfüllenden Spielfilm gedreht, dessen Kickstarter-Finanzierung durch die Decke schoss und den Netflix jetzt in die halbe Welt hinaus sendet. «Paris est à nous» heisst das kühne, im Guerilla-Stil gedrehte Generationen- und Parisporträt, das daherkommt, als hätte Terrence Malick die «Before»-Trilogie Richard Linklaters fortgesetzt; ein Film auch, der in seiner unkonventionellen Entstehung viel erzählt über Noémie Schmidt – eine der unkonventionellsten Schauspielerinnen, die die Schweiz seit ­langem hervorgebracht hat.

 

Vif in politischer Theorie

Vor fünf Jahren war die in Paris lebende Walliserin, Jahrgang 1990, die inzwischen jeder als die Schickse aus Michael Steiners Erfolgskomödie «Wolkenbruch» kennt, mit Elisabeth Vogler vor die Haustüre getreten, um auszuprobieren, wie es sich mit einer dieser kompakten Blackmagic-Pocket-Digital­kameras drehen lässt. «Wir wollten einfach mal schauen, was passiert, wenn man auf der Strasse drauflos filmt», sagt Schmidt am Telefon aus Paris.

Als sie sich die Aufnahmen dann anschauten, be­merkten sie in den Gesichtern der Menschen etwas Unheilvolles. Schon vor den Anschlägen auf Charlie Hebdo und das Bataclan, aber auch vor den Protesten gegen das neue Arbeitsgesetz unter Hollande, schienen die Pariser wie aufgeschreckt. «Das Klima war angespannt», erinnert sich die in politischer Theorie sehr vife Schmidt, die sich mit kulturkritischen Denkern wie Ivan Illich beschäftigt, gerade ein Buch von Juan Branco, dem Anwalt Julian Assanges, gelesen hat oder einen Mann wie François Ruffin bewundert, der zuletzt mit einer Doku über die Gilets Jaunes auffiel.

Die Endzwanzigerin glaubt, eine Perspektivlosigkeit der Menschen angesichts der politischen Entwicklungen ausgemacht zu haben, ein Gefühl auch, nicht mehr in der Realität zu stehen. «Diesem Gefühl haben wir mit dem Film Ausdruck verleihen wollen.»

«Paris est à nous» erzählt von zwei jungen Menschen, die sich auf einem Rave kennenlernen und sich liebend und streitend durch ein Paris im Aufruhr bewegen, während Zeit- und Ortssprünge die Grenzen von Traum und Realität verschwimmen lassen.

 

Überraschendes Spiel

«Wir haben den Film in unserer Freizeit gemacht», erklärt die in Frankreich durch die Historienserie «Versailles» (2015) weitum bekannt gewordene Schauspielerin: «Wenn wir nicht arbeiteten, waren wir draussen in den Strassen und haben gefilmt.» Freunde und weitere Bewohner aus Noémie Schmidts Künstler-WG brachten sich ein, man drehte inmitten von Menschenmengen, Protesten und Demos. «Wir konnten unsere Geschichte damit füttern, was sich um uns herum zutrug.»

Dass sie improvisieren könne, sei Noémies grosse Qualität, meint Michael Steiner: «Ihr Spiel überrascht einen, sie macht Dinge, die man nicht erwartet.» Der «Wolkenbruch»-­Regisseur, der ihr mit der Rolle der Schickse Laura zum ersten Engagement in der Schweiz überhaupt verholfen hat, erinnert sich, wie ihm Schmidt schon beim Casting als eine «sehr direkte» junge Frau imponierte, «die selbstgedrehte Zigaretten rauchte und sich über Emmanuel Macron ausliess».

Macron stehe für das verrottete System, sagt darauf angesprochen Noémie Schmidt und macht den Bogen zum Film «Paris est à nous», der auch insofern politisch sei, als man die Regeln des Kunstbetriebs nicht befolgt habe, «wir gehorchten dem System nicht».

 

Zuerst mal stillsitzen

Nachdem man den Dreh mit eigenem Geld gestemmt hatte, wollte man die Postproduktion über Crowdfunding finanzieren. 10ʼ000 Euro waren das Ziel, und irgendwann lagen über 90ʼ000 Euro auf dem Konto. «Plötzlich rief uns jeder Verleiher im Land an, alle wollten den Film sehen», sagt Schmidt. Die Ernüchterung folgte allerdings auf dem Fuss: «Zu experimentell», lautete der Tenor. «Ihr müsst dies und das ändern.»

Dann rief Netflix an. «Wir möchten den Film kaufen», sagte ein Vertreter des Streaming­diensts. «Und wir möchten ihn genau so kaufen, wie er ist. Wir möchten nichts ändern und wir möchten, dass er in 190 Ländern zu sehen ist.»

Nun, da Noémie Schmidt überall zu sehen ist und sie sich dank «Wolkenbruch» und einer Nomination für den Schweizer Filmpreis auch hierzulande hervorgetan hat, nun sagt sie, lautet ihr vorrangiges Ziel: «Stillsitzen.» Sie wollte auf ein Drehbuch warten, «das mich wegbläst». In der Zwischenzeit werde sie viel lesen, vielleicht einen weiteren Film mit ihren Freunden drehen. «Wir sind zusammengewachsen», sagt Noémie Schmidt: «Wir haben viel erlebt und uns entwickelt. Wir wollen weitermachen.» Auch ausserhalb des Systems, soll das heissen.

▶  Originaltext: Deutsch

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