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Das Biest drängt ins Freie

Andreas Scheiner
22. Juli 2021

Lorenz Merz © Lorenz Merz

Am Nebentisch sitzt die Schauspielerin Luna Wedler. Zürich ist endgültig aus dem Lockdownschlaf erwacht, alle zieht’s wieder raus. Regisseur Lorenz Merz hatte sich bis zuletzt verkrochen und in der Schnitthöhle an seinem neuen Film «Soul of a Beast» gefeilt. Jetzt drängt das Biest ins Freie, in Locarno geht es auf die Leopardenjagd – und Merz mischt sich wieder unter die Leute. Im Lokal am Limmatplatz trinkt er einen Grüntee, nachdem er den ganzen Tag an «letzten technischen Abfertigungsdetails» gesessen hat. Und prompt erblickt er also Luna Wedler am Nebentisch. Der Jungstar spielt auch mit in Merz’ Film. Kleine Welt. 

 

Er teilt sich mehr in Bildern mit

Luna spiele eine wichtige Nebenrolle, sagt der Regisseur und Kameramann, der seinen Film noch unter Verschluss hält, weil es ihm ein Anliegen ist, dass die Journalisten das Werk auf der Leinwand sehen. Im Zentrum von «Soul of a Beast», soviel verrät Merz, stehe aber ein alleinerziehender Teenager-Vater, Gabriel (Pablo Caprez), der sich schlecht und recht durchschlagen kann. Dann verliebe er sich in Corey (Ella Rumpf), die Freundin seines besten Freundes. «Corey ist ein Enigma», sagt Merz: «Ungreifbar, frei.» Gabriel zerreisse es zwischen Freundschaft, Verrat und seiner Verantwortung als liebender Vater; seine Welt, die er ohnehin kaum zusammenhalten könne, drohe endgültig auseinander zu fallen.

Mehr sagt Merz nicht. Der Film solle für sich sprechen. Der Mann, der für seine Filme auch jeweils die Kamera macht, teilt sich weniger in Worten mit denn in Bildern. Schon als Jugendlicher verspürte er «eine Frustration, Dinge zu erleben, ihnen aber keinen Ausdruck geben zu können». Er habe dann das Medium Film entdeckt, das seiner Form, auf die Welt zu schauen, am nächsten komme. «Film erlaubt mir, ein Gefühl zu vermitteln und eine Wahrnehmung der Welt.»

 

Kamera ohne Abstandsregeln

«Soul of a Beast» sei «null autobiografisch», betont Merz, «und doch sehr stark von einschneidenden Momenten in meinem Leben inspiriert». Merz ist mit 18 Jahren das erste Mal Vater geworden – fast gleichzeitig sind seine besten Freunde tragisch ums Leben gekommen. Der junge Mann erlebte ein «paradoxes Gefühl der widersprüchlichen Empfindungen in der Welt».

Merz, Jahrgang 1981, hat an der ZHdK Film studiert, mit seinem Abschlussfilm gewann er 2009 den Quartz für den besten Kurzfilm. Einen Tag nach der Preisvergabe flog er auf eine Insel, schrieb in zwei Wochen das Treatment für einen Langfilm nieder. Von Schicksalsschlägen handelte es, die ein junges Leben aus der Bahn werfen. Er haute rein in die Tasten, das Drehbuch hatte bald 200 Seiten. Dann realisierte Merz «mit gekrümmtem Rücken», dass er «etwas viel Unmittelbareres machen muss, das nicht mit so vielen Hirngespinsten zu tun hat». Das Projekt wanderte in die Schublade. Merz debütierte mit dem improvisierten, essayistischen Roadmovie «Cherry Pie» (2013), in dem eine junge Gestrandete (Lolita Chammah) durch traurige südenglische Landschaften driftet. Ein fast dialogloser Film, der mit «minimalen Mitteln ein Maximum an filmischer Atmosphäre erzeugt» («WOZ»).

Merz’ Kamera kennt keine Abstandsregeln, in ihrem steten Drang nach Nähe übt sie eine grosse suggestive Kraft aus. Seine intensiven Bilder würden unter die Haut gehen, attestiert ihm die Schweizer Kameragrösse Felix von Muralt («Die schwarzen Brüder»): «Lorenz ist in seiner Suche nach dem richtigen Bild kompromisslos, lotet Grenzen aus, verliert aber nie den Blick auf die Geschichte.»

 

Beim Dreh darf alles passieren

Für Simon Jaquemets «Chrieg» (2014) führte Merz die Kamera. Schon bei den Probeaufnahmen mit Ella Rumpf wusste er, dass sie nicht nur die weibliche Hauptfigur für «Chrieg» sein würde, sondern, dass er mit ihr auch die Corey des eigenen Films gefunden hatte. Er machte die Schublade mit dem alten Drehbuch auf und brach das Skript auf 90 «sehr genaue, konkrete Seiten» herunter. Die Kunst, sagt er, sei es dann gewesen, in dieses Gerüst das echte Leben einfliessen zu lassen. Es interessiert diesen Filmemacher nicht, ein Drehbuch «wie einen architektonischen Plan» mit Bilder auszufüllen. «Das wäre für mich das Langweiligste der Welt.»

Merz’ Credo: Beim Dreh darf alles passieren. Am Limmatplatz sitzend, erinnert er sich an die 130 Stunden Material, die er bei den Dreharbeiten in Zürich generiert hat. Auf dem Set, inmitten der sich materialisierenden Hirngespinste, fühle er sich voll am Leben, sagt er. «Das ist so intensiv, wenig macht mich glücklicher.»

 

▶  Originaltext: Deutsch

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