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Innenwelten

Pascaline Sordet
27. September 2018

Carmen Jaquier, Filmemacherin

Carmen Jaquiers Kurzfilme und ihre Figuren wirken, so möchte man sagen, sehr feminin. «Le tombeau des filles», «Le bal des sirènes» und «La rivière sous la langue» zeigen heranwachsende, sinnliche Mädchen, fast noch Kinder. «Meine Kurzfilme sind auf sehr instinktive Weise entstanden, aus meinem Inneren, meinen Kindheitsverletzungen und Jugendträumen. Heute erkenne ich wiederkehrende Motive und kann darüber nachdenken.» Einen Film zu drehen sei wie eine Büchse der Pandora zu öffnen, sagt Jaquier. Als junge Regisseurin habe sie sich nicht imstande gefühlt, bewusste Aussagen dazu zu machen. «Heute denke ich über jedes Wort, jede Farbe nach und überlege mir, was sie erzählen und was dies für unsere Gesellschaft bedeutet.» Ihre Arbeit ist erwachsen geworden, ohne dabei ihren Ursprung zu verleugnen.

Diese sehr freie, bewusste, aber keineswegs intellektuelle Vorgehensweise passt perfekt zur Filmemacherin. Wie ihre Figuren zeigt auch sie eine sensible Oberfläche, unter der sich Hartnäckigkeit und Wut verbergen. Als sie am Locarno Festival auf der Bühne stand, um von Suissimage rund eine halbe Million für ihren ersten Film in Empfang zu nehmen, strahlte sie genau diese eigenartige Kraft aus, die sich hinter der Sanftheit versteckt. Weder ihr Geschlecht noch die Tatsache, dass sie schwanger ist, lassen vergessen, dass sie in erster Linie Filmemacherin ist: «Ich machte mir grosse Sorgen, man könne mir die Schwangerschaft ansehen und mich in das Klischee einer Schwangeren zwängen, die nicht die nötige Energie aufbringt, um einen Film zu drehen. Zugleich erlebt jede schöne, intensive und schmerzliche Momente und arbeitet mit diesen vorübergehenden Zuständen.»


Keine Angst vor dem grossen Budget

Als erstes Projekt nach ihrem Studium an der ECAL beteiligt sie sich an dem von Contrast Film produzierten Kollektivfilm «Heimatland». Als Westschweizerin und als Frau gleich doppelt in der Minderheit, verteidigt sie das, was sie gelernt hat: «meine Wahrheit im Augenblick». Eine bereichernde und zuweilen brutale Erfahrung. Rückblickend wird ihr bewusst, dass sie damals weniger offen war für Vorschläge anderer: «Heute weiss ich, dass Konfrontationen bereichernd sind und meiner Intuition keinen Abbruch tun.»

Diese Verbindung zu sich selbst, zu dem was sie ihre «innere Welt», ihre «territoires intérieurs» nennt, ist Carmen Jaquier sehr wichtig. Sie steht zu ihren Launen, ihren Widersprüchen und fügt an, sie habe «keine Angst vor einem grossen Budget. Ich weiss, was ich will und brauche, um einen Film zu drehen.» In ihrem ersten Spielfilm «Foudre», an dem sie gerade schreibt, geht es um Adoleszenz – «ein Zustand, der mich aufwühlt» – zu einer Zeit, als dieser Begriff noch nicht existierte. Basierend auf Tagebüchern ihrer Urgrossmutter, erzählt der Film von der Trauer, der Ungerechtigkeit, dem Mut und dem Verlangen, seinem subversiven und verwandelnden Potenzial, indem er die Verbindung zwischen Sexualität und sozialer Auflehnung im späten 19. Jahrhundert aufzeigt. Ein Kostümfilm also, der von Flavia Zanon bei Close Up Films produziert wird – auch für sie der erste lange Spielfilm.


Moodboards und die Liebe zum Detail

Carmen Jaquier arbeitet hauptsächlich in ihrer Wohnung in Zürich, in einem Büro, das auch in Zukunft Büro bleiben wird – denn ein Arbeitszimmer ist wichtiger als ein Babyzimmer. «Ich liebe diesen Raum, er ist Teil meines Kosmos», verkörpert durch eine Collage aus Bildern, Notizen und Büchern.

Hart zu arbeiten hat die Filmemacherin schon während ihrer Ausbildung zur Grafikerin an der Kunstgewerbeschule in Genf gelernt. Hier übt sie schon mit 16 Jahren den Umgang mit Kunden und mit Fristen, lernt den Wert fundierter Recherche und die Hingabe an ein Projekt. An der ECAL, wo sie ihr Filmstudium absolviert, arbeitet sie mit gleicher Intensität weiter. Die Liebe zum Detail, die ihr aus der grafischen Arbeit geblieben ist, nutzt sie nun für die Vorbereitungen zu «Foudre», etwa mit der Kostümschneiderin: «Die Kleidung einer Figur sagt viel aus über ihr Leben und hilft beim Schreiben, selbst wenn es keine exakte Reproduktion einer Epoche oder eines Orts gibt.» Die Dreharbeiten sind für Sommer 2019 vorgesehen.


▶ Originaltext: Französisch


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