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Die Kluft kann gross sein zwischen Bühne und Film

Adrien Kuenzy
16. September 2022

Workshop an der «Manufacture», geleitet von Elina Lowensohn und Timothée Zurbuchen © Augustin Losserand

In der Schweiz gibt es mehr Schauspiel-Studiengänge an Hochschulen denn Ausbildungen für Filmschauspiel, doch der Sprung von der Bühne ans Filmset gestaltet sich für angehende Schauspieler:innen oft schwierig. Um das Angebot zu ergänzen, wurden in letzter Zeit mehrere Film-Schauspiel-Schulen eröffnet. 

Schauspieler:innen müssen mit ihrer Rolle verschmelzen, egal ob im Thea­ter oder im Film. Die Frage ist, wie, wo und mit welchen Mitteln man dies erreicht. Hier liegt vielleicht der beste Ansatz, um die Unterschiede zwischen Theater- und Filmschauspiel zu erfassen. Für junge Schauspieler:innen in der Schweiz gibt es keinen vorgezeichneten Weg, um eines Tages den Durchbruch auf der Leinwand zu schaffen, denn die Ausbildungsmöglichkeiten sind vielfältig.

Die subventionierten, drei- bis fünfjährigen Vollzeit-Studiengänge an den vier Fachhochschulen sind hart umkämpft. Die Hochschule der Künste Bern, die Zürcher Hochschule der Künste, die Manufacture in Lausanne und die Accademia Teatro Dimitri in Verscio (Tessin) bieten nur wenige Studienplätze, für die es ein strenges Auswahlverfahren gibt. Allein in Zürich bewerben sich jedes Jahr rund 600 Personen um gerade einmal 20 Plätze. Trotz unterschiedlicher Ansätze und Studienprogramme bietet keine der Schulen eine spezifische Ausbildung für den Film an. Workshops im Bereich Filmschauspiel werden jedoch nach und nach in die meisten Studiengänge integriert.

An der Manufacture sitzen regelmässig Filmschaffende in der Jury der Aufnahmetests, «denn sie haben eine andere, ergänzende Sicht der Dinge», so Frédéric Plazy, der die Hochschule seit elf Jahren leitet. «Zudem versuchen wir, regelmässige Beziehungen zu den Westschweizer Filmschulen wie der ECAL und der HEAD zu unterhalten. Wir organisieren auch Workshops zu Themen wie Casting oder der spezifischen Dramaturgie eines Drehbuchs.» Schliesslich bietet die Schule im dritten Studienjahr einen mehrwöchigen Workshop unter der Leitung erfahrener Filmschaffenden an. Vergangenes Jahr war es Frédéric Fonteyne, der die Studierenden inspirierte: «Mir wurde bewusst, dass man vor der Kamera nicht mogeln kann, das ist eigenartig», so die frischgebackene Manufacture-Absolventin Alice Delagrave, die gerade in Frankreich ihre erste Rolle in einem Film spielt. «Zu Beginn hatte ich ein wenig Angst, aber ich lerne on-the-job.» Frédéric Plazy bestätigt, dass seine zeitgenössisch ausgerichtete Schule sich in erster Linie auf die Bühnenausbildung konzentriert: «Im Film stehen den Schauspielenden enorm viele Werkzeuge zur Verfügung. Vielleicht sollten wir diese vermehrt mit einbeziehen, doch in drei Jahren können wir nicht alles machen.»

 

Fehlende Möglichkeiten

Auch die Zürcher Hochschule der Künste bietet einen kleinen Experimentierraum im Filmbereich an. Dem Verantwortlichen Peter Ender, der seit zehn Jahren die Sektion Schauspiel leitet, ist es wichtig, jedes Jahr Kurse in Filmschauspiel anzubieten, «ohne jedoch die Bedürfnisse jener, die diesen Weg einschlagen möchten, vollständig erfüllen zu können», wie er einräumt. «Mir ist bewusst, dass 80 Prozent unserer Studierenden gerne in Filmen spielen möchten, doch man muss auch bedenken, dass in der Schweiz das Theater weitaus mehr Möglichkeiten bietet. Zudem stammt die Hälfte unserer Studierenden aus Deutschland, Österreich und Luxemburg. Wenn sie in der Schweiz Karriere machen möchten, sind ihre Chancen im Film als Hochdeutschsprechende eher gering.»

Aktuell ist die Zusammenarbeit zwischen unserem Theater- und Filmbereich noch sehr begrenzt, laut Peter Ender «aus terminlichen Gründen». Ab 2024 wollen die Verantwortlichen der beiden Lehrgänge jedoch eine neue Ära einläuten: «Jedes Semester werden Studierende aus unseren Klassen an einem mehrwöchigen Filmworkshop teilnehmen, in dem sie unter der Anleitung von professionellen Schauspieler:innen und Filmemacher:innen arbeiten», so die Studienleiterin Film Sabine Boss. «Fiktion und insbesondere Serien spielen in der Schweiz eine immer wichtigere Rolle. Darauf müssen wir die junge Generation vorbereiten. Unsere Regie-Studierenden verstecken sich gerne hinter der Technik, wenn sie mit erfahrenen Darsteller:innen arbeiten. Die zukünftige Zusammenarbeit unter jungen Talenten dürfte zu einer entspannteren Atmosphäre beitragen, vor wie hinter der Kamera.» Ein Austausch, von dem beide Seiten profitieren. 

 

Magie auf Knopfdruck

Anstatt einfach auf bessere Tage zu warten, nehmen viele Studierende das Zepter selbst in die Hand – mit Offenheit und Überstunden. Amélie Hug, derzeit im vierten Studienjahr an der ZHdK, hat bereits verschiedene ausserschulische Gelegenheiten wahrgenommen und an fünf Kurzfilmprojekten ihrer Mitstudierenden aus der Sektion Film mitgewirkt. «Ich durfte keine Lektionen verpassen, daher war es ziemlich stressig. Die ZHdK spricht ständig von interdisziplinärer Zusammenarbeit, doch die konkreten Möglichkeiten, vor der Kamera zu spielen, sind im offiziellen Studienprogramm viel zu rar.» Ihre Bemühungen scheinen Erfolg zu zeigen: Kürzlich hatte sie ihre erste Nebenrolle in einem Spielfilm. Ein Weg parallel zum Studium, der ihr Selbstvertrauen gestärkt hat.

Denn auf der Bühne oder vor der Kamera zu spielen ist nicht dasselbe. Das merken die jungen Schauspiel-Anwärter:innen schnell, und die Erfahreneren erinnern sich amüsiert daran: «Vor 15 Jahren spielte ich am Theater in einem grossen Klassiker zusammen mit einem deutschen Filmstar», so der Schauspieler Ingo Ospelt («Und morgen seid ihr tot», «Moskau einfach»). «Nein, ich werde seinen Namen nicht verraten. Im Film zog sein Blick alle in den Bann, doch im Theater war er, wie soll ich sagen... total schwach! Einmal zu laut, dann zu leise, und völlig unfähig, sich im Raum zu bewegen.» Ingo Ospelt, der an der Schauspielakademie Zürich (heute ZHdK) studiert hat, erlebte an seinen ersten Filmdrehs genau das Gegenteil. «Ich musste lernen, nichts zu tun, mich zurückzuhalten, meine Bewegungen zu segmentieren. In von Focal organisierten Weiterbildungen mit Barbara Fischer konnte ich mich verbessern, indem ich die Befindlichkeit meiner Figur in jeder Drehbuchsequenz analysierte. Bei der Dreharbeit beginnt mit jedem ‹Action› ein kleines Theaterstück.»

Gemäss Barbara Terpoorten, Schauspielerin und Verantwortliche des Bereichs Schauspiel bei Focal, ist die junge Generation besonders begierig nach solchen Coachings: «In Bezug auf den Film haben die jungen Schauspielenden sehr wenig Selbstsicherheit. Ihnen fehlt die nötige Erfahrung, und im Gegensatz zum Theater können sie sich im Rahmen ihrer Ausbildung nicht ausreichend im Filmschauspiel üben.» Während viele junge Studienabgänger:innen der Hochschulen zugeben, dass sie sich mangels Erfahrung nicht in den Film wagen, wählen andere die Theaterausbildung bewusst im Gedanken an «den Traum einer Hollywood-Karriere», wie der junge Schauspieler Kris Hartmann, der 2021 sein Studium an der Manufacture abschloss. Er wählte die Bühne, um sich auf den Film vorzubereiten: «Wir lernen, ins Extreme zu gehen und uns selbst zu übertreffen. Wenn man einmal das ganze Potenzial ausgeschöpft und gelernt hat, seine ganze Vorstellungskraft zu nutzen, ist es einfacher, Emotionen zurückzuhalten und mit den Details zu spielen. Man kennt seinen Körper und seinen Geist besser. Umgekehrt fände ich es schwieriger.»

Jenseits der ästhetischen Unterschiede zwischen Theater- und Filmschauspiel, die seit Ewigkeiten immer wieder heraufbeschworen werden und nicht absolut gelten (ein Theaterstück von Krystian Lupa oder ein Film von Yann Gonzales stellen in dieser Hinsicht alle Gewissheiten auf den Kopf), geht es für die Darsteller:innen und die Ausbildenden vor allem auch darum, wie man in seine Rolle hineinkommt. «Bei Dreharbeiten muss man sofort in die Geschichte eintauchen», so Barbara Terpoorten. «Man muss sich im Vorfeld vorbereiten und die Magie dann auf Knopfdruck liefern. Im Theater erarbeitet man das in der Gruppe während wochenlanger Proben.»

Die Arbeit mit einem Coach ist also für viele, auch erfahrene Schauspieler:innen, ein gutes Mittel, sich auf Dreharbeiten vorzubereiten. Sabine Boss, die derzeit mit gestandenen Profis wie Roeland Wiesnekker, Ursina Lardi, Sarah Spale und Max Simonischek «Die Nachbarn von oben» dreht, ist vom Coaching überzeugt, «selbst wenn gewisse Leute es als ein Eingeständnis von Schwäche betrachten», so die Filmemacherin. «Ich konnte sechs Tage lang mit meinen Darsteller:innen proben, das war fantastisch. Solche Gelegenheiten gibt es zu selten. Wie soll ein Schauspieler oder eine Schauspielerin sich gründlich auf die Dreharbeiten vorbereiten, wenn er oder sie nur für die Drehtage bezahlt wird? Das Problem liegt auch bei den Löhnen!»

 

Netzwerke aufbauen

Obwohl sich alle einig sind, dass mehr Erfahrung vor der Kamera den jungen Talenten helfen würde, ist gegenüber den Schulen, die sich in erster Linie darauf konzentrieren, auch Vorsicht geboten. So ist gemäss Silvan Kappeler, Schauspieler und Präsident der Berufsgruppe Schauspieler beim SSFV, «eine solide Ausbildung an einer Theater-Hochschule immer noch die seriöseste Art, den Beruf korrekt zu erlernen. Denn das Wichtigste ist ein gutes Verständnis der Rollen und die Fähigkeit, einem Text Bedeutung zu verleihen.»

Während die 1990 in Zürich gegründete European Film Actor School (EFAS) kürzlich schloss, entstehen neue Schulen, die sich auf den Film konzentrieren. Eine von ihnen ist die Filmschauspielschule Zürich (FilmZ), die im September 2021 vom Schauspieler Simon Keller und der Pädagogin und Unternehmerin Sandra Fischer gegründet wurde. Aktuell ist es natürlich noch zu früh, um die private Institution zu beurteilen. Sandra Fischer findet es «unabdingbar, eine Ausbildung anzubieten, welche die Besonderheiten des Films schnell und auf allen Ebenen integriert.» Sie fügt an: «Wir bauen unser Netzwerk und unsere Zusammenarbeit mit der Branche stetig aus. Je mehr unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen die Studierenden kennenlernen, desto solider ist ihre Basis». Acting Line Studio in Lausanne und Genf wurde vor vier Jahren von Gründer und Leiter Ludovic Gossiaux (siehe folgendes Interview) aus dem gleichen Bedürfnis heraus ins Leben gerufen.

Ein weiterer Aspekt sind die Beziehungen zur Filmbranche während der Ausbildung. Alle befragten Personen an den Hochschulen waren sich einig, dass diese deutlich vernachlässigt werden. Kris Hartmann nimmt kein Blatt vor den Mund: «Wenn ich mir nicht selbst meine Kontakte gesucht hätte, wäre gar nichts passiert.» Aus diesem Grund plant Acting Line Studio auch regelmässige Treffen mit französischen Agent:innen – ein Angebot, das es in der Schweiz nicht gibt. Uchenna Kessi, ehemaliger Student des Acting Line Studio, hat so einen Agenten gefunden. «Für eine Schauspielkarriere ist das match­entscheidend. Dank seiner Unterstützung konnte ich bereits an zahlreichen Castings teilnehmen.» Schliesslich gibt es noch Plattformen wie comedien.ch, wo Studierende bereits während der Ausbildung Kontakte zu Filmschaffenden knüpfen können – je früher, desto besser.   

 

Originaltext: Französisch

 

FemaleAct

Der von Schweizer Schauspieler:innen geleitete Verein FemaleAct setzt sich unter anderem für Diversität im Film und auf der Bühne ein, für die Beseitigung von Stereotypen im Film und für gleiche Löhne für alle. Dazu organisiert FemaleAct Diskussionsrunden zur Sensibilisierung an Film- und Theaterfestivals und wendet sich auch an die Öffentlichkeit, um einen Mentalitätswandel anzuregen. Eine WhatsApp-Gruppe bietet die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Rat zu suchen. Gemäss Barbara Terpoorten, die zu den Gründerinnen gehört, ist ein kritischer Blick auf Darstellungen im Film notwendig: «Ist es immer nötig, einen nackten Körper zu zeigen? Muss der Taxifahrer unbedingt ein Mann sein? Die Welt befindet sich im Wandel.»

www.femaleact.ch

 

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