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Zukunfts-Ideen für die Branche

Adrien Kuenzy
31. Mai 2022

Um eine Firma oder Teile davon neu zu konzipieren, braucht es viel Denkarbeit und oft Kooperationen. ©Istock

Die Finanzhilfen für Transformationsprojekte haben Kultur­unternehmen den nötigen Raum verschafft, um sich während der Coronakrise zu hinterfragen und neu zu definieren. Dabei sind ambitionierte und innovative Ideen entstanden.

Die Schockstarre und die Leere, welche die Pandemie auslöste, haben unter den Filmschaffenden für Angst und Verzweiflung gesorgt. Doch die Branche hat es auch verstanden, diese schweren Zeiten zu nutzen, um sich neu zu erfinden. Das Angebot erweitern, sich neu ausrichten oder komplett reorganisieren: Aus dem Chaos entstanden viele Ideen, die nicht zuletzt dank den auf das Covid-19-Gesetz gestützten Finanzhilfen für Transformationsprojekte konkretisiert werden konnten. «Als wir 2021 feststellten, dass die Pandemie noch lange nicht zu Ende ist, mussten wir zusätzlich zu den Ausfallentschädigungen ein Instrument schaffen, um die Wiederbelebung des Kultursektors zu unterstützen», so Nicolas Gyger, stellvertretender Leiter des Kulturamts des Kantons Waadt. «Gemeinsam mit dem Bund und allen Akteuren mussten wir über neue Arten der Zusammenarbeit nachdenken, um das Publikum auf andere Weise zu erreichen.»

So wurden aus den Finanzhilfen, die anfänglich nur den Schaden begrenzen wollten, Mittel zur Überprüfung und Erneuerung – in diesem unsicheren Umfeld ein Muss. Die neusten Zahlen zeichnen immer noch das Bild einer schwierigen, von der Pandemie geprägten Zeit: Gemäss ProCinema lagen die Zuschauerzahlen 2021 mit 5ʼ571ʼ667 Eintritten zwar 23,69 Prozent höher als 2020, verglichen mit 2019 betrug der Verlust jedoch 57 Prozent. Damit liegt die Schweiz im internationalen Durchschnitt (Frankreich: 56 Prozent, Deutschland: 62 Prozent, Italien: 73 Prozent, USA: 60 Prozent). Auch wenn es noch zu früh ist, vorherzusagen, ob das Publikum in die Kinosäle zurückkehren wird, tragen diese Transformationsprojekte auf jeden Fall dazu bei, den Gemeinschaftssinn zu stärken.

 

Mittel zur Verfügung stellen

Gemäss den Bestimmungen des Covid-19-Gesetzes müssen die Projekte entweder die strukturelle Neuausrichtung oder die Publikumsgewinnung zum Ziel haben. Zwischen Oktober 2020 und April 2022 gingen in der ganzen Schweiz 1ʼ739 Gesuche ein, und quer über alle Kulturbereiche wurden 60 Millionen Franken gesprochen. Die Beiträge in Höhe von maximal 300ʼ000 Franken pro Gesuchsteller:in werden je zur Hälfte von Bund und Kanton finanziert und decken höchstens 80 Prozent der Projektkosten. Zurzeit geben nicht alle Kantone Auskunft über die Verteilung der Mittel, so gibt zum Beispiel das Tessin weder Namen noch Beträge bekannt. In Zürich wurden bis Ende letzten Jahres zehn Projekte aus dem Filmsektor unterstützt, mit einem Gesamtbetrag von knapp 2 Millionen Franken. Im Vergleich dazu wurden in den Kantonen Waadt und Genf zwar viel mehr Projekte unterstützt, der Gesamtbetrag belief sich aber nur auf 1,3 bzw. 1,5 Millionen Franken. Dabei ist zu beachten, dass für die meisten bewilligten Projekte praktisch die gesamte beantragte Summe gewährt wurde. Die Unterschiede liegen somit hauptsächlich in den Projektkosten, die von Kanton zu Kanton stark variieren. 

Die Projekte, die nicht den gesamten finanziellen Spielraum beanspruchten, sind deswegen nicht minder ehrgeizig. So konnte zum Beispiel das Cinéma Bellevaux in Lausanne dank eines Förderbeitrags von 160’000 Franken ein neues, innovatives Soundsystem installieren (siehe S. 9). «Ich fand es immer eine absurde Idee, als Kino online zu gehen. Damit schneidet man sich ins eigene Fleisch», so der Leiter des 1959 gegründeten Arthouse-Kinos, Gwenaël Grossfeld. «Je mehr wir uns einreden, dass das Kino keine Zukunft hat, desto eher wird es so kommen.» Der Saal, der Platz für 80 Leute bietet, ist nun mit einem System aus voneinander unabhängigen Lautsprechern ausgestattet. Über den Raum verteilt, bieten sie ein immersives, fast schon binaurales Klangerlebnis. «Diese Technik eröffnet unbegrenzte Möglichkeiten und fügt sich dennoch perfekt in den Saal ein, ohne dessen Identität oder Architektur zu verändern. So können wir nicht nur ein besseres Kinoerlebnis bieten, sondern auch mit Klangkünstlern zusammenarbeiten und präzise Musikdarbietungen verschiedenster Art ermöglichen.»

Das Cinérive in Vevey bietet seit Kurzem nebst Filmvorführungen auch Escape Rooms an – Gruppenspiele, bei denen vor einer realistischen Kulisse Rätsel gelöst werden. Eines der Spiele wurde von Harry Potters Abenteuern inspiriert, das andere von «Shining» von Stanley Kubrick. «Wir hatten hier in Vevey fünf Kinos, darunter das mittelgrosse Rex 4», erklärt Meryl Moser, Leiterin von Cinérive. «Da es abseits der anderen Säle liegt, benötigte es zusätzliches Personal und war nicht rentabel.» Seit der Eröffnung im Mai 2021 zählten die Escape Rooms bereits 8’000 Besucher:innen (es können nur maximal acht Spieler:innen gleichzeitig im Raum sein), und die Nachfrage nimmt stetig zu. Die Einnahmen übersteigen jetzt schon die Gesamtkosten des Projekts, die sich einschliesslich Schreiben der Drehbücher, Aufbau der Kulissen und Technologie auf 200’000 Franken beliefen. «Ich wollte diversifizieren, damit mein Unternehmen überleben kann. Natürlich musste ich dafür in der Branche auch Kritik einstecken. Ich organisiere zudem schon seit längerem Gaming-, Karaoke- und andere Veranstaltungen in meinen Kinosälen. Den Leuten gefällt das, es kam bei uns sogar schon zu Heiratsanträgen. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Kino zu Beginn gattungsübergreifend war und auch künstlerische Darbietungen, Konzerte, Varietés und dergleichen anbot.»

 

Plattform zu Filmrechten

Auch das Angebot von Ciné-Doc, dem monatlichen Dokumentarfilm-Anlass der Regionalkinos, konnte dank einer finanziellen Beihilfe von 185’000 Franken überarbeitet werden. Sein Gründer Gwennaël Bolomey nutzte die Zeit der Kinoschliessungen, um dem Projekt neues Leben einzuhauchen. «Ein Teil der Gelder wurde zur Ideengestaltung eingesetzt, ein anderer für den Entwurf von Musterveranstaltungen, zum Beispiel Filmworkshops und weiteren Angeboten», erklärt der Präsident des vor sieben Jahren gegründeten Vereins. Ab September 2022 werden die Vorführungen mit anschliessender Diskussionsrunde in der gesamten Westschweiz angeboten und vermehrt auch an Schulen, in Gefängnissen, Migrantenunterkünften und Seniorenheimen durchgeführt. «Es ist uns wichtig, dass unser Angebot die unterschiedlichsten Publikumsschichten erreicht. In Gefängnissen haben wir bereits sehr gute Erfahrungen gemacht.»

Manche Veränderungen wirken sich nicht direkt auf das Publikum aus, sondern zielen auf die unternehmensinterne Organisation ab. So erhielt die Vertriebsgesellschaft Praesens-Film 300’000 Franken für die Entwicklung eines IT-Tools, mit dem sie viel Zeit einsparen kann. «Unser Katalog enthält über 500 Filme», so Geschäftsführerin Corinne Rossi. «Aktuell arbeiten wir mit zu vielen verschiedenen Systemen und Excel-Tabellen. Ziel des Projekts, das Ende Jahr fertiggestellt wird, ist es, eine einzige Plattform zu schaffen, mit einer Übersicht über alle Rechte wie VOD, SVOD usw. in unserem Besitz, damit wir jederzeit sofort herausfinden können, mit wem welcher Vertrag  abgeschlossen wurde, was bereits verkauft wurde oder noch verfügbar ist, für welches Land, usw.» Auch die Verwaltung der Metadaten, des Materials für soziale Netzwerke und der Filmposter wird im Rahmen dieser kleinen Revolution neu organisiert. «Wir arbeiten in drei Sprachen, und es existiert derzeit kein System, das damit umgehen kann. Stellen Sie sich vor, RTS fragt uns, was wir aus den Jahren 1924-1925 haben, und wir möchten ihnen nur Titel auf Französisch anbieten, oder für SRF nur auf Deutsch.» Die neue Softwarelösung, die von Entwicklern in Indien umgesetzt wird, kommt auch anderen Unternehmen der Branche zugute, welche die Lizenz erwerben können – dies war im Übrigen eine Bedingung, damit die Finanzhilfe gewährt wurde.

 

Ein dreidimensionales Museum

«Wir stellen fest, dass es in der Filmbranche auf allen Stufen der Verwertungskette viele Einzelkämpfer:innen gibt, die alle vor den gleichen Aufgaben stehen», so Lisa Fuchs, stellvertretende Leiterin der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich. «In diesem Kontext kann eine Zusammenarbeit bis hin zu strategischen Partnerschaften ein wirkungsvolles Mittel sein, um die aktuellen Probleme zu überwinden.» Während viele Kandidat:innen ein Einzelprojekt starteten, haben sich andere zusammengetan. Dies hat den Vorteil, dass die Förderbeiträge verschiedener Unternehmen zusammengelegt und für ein gemeinsames Ziel eingesetzt werden können. So erhielten zum Beispiel die Kosmos-Kultur AG und die Neugass Kino AG in Zürich für ihr gemeinsames Projekt Beiträge in Höhe von 600’000 Franken. Bis zur öffentlichen Lancierung geben sich die Verantwortlichen bedeckt: «Seit letztem August gestaltet die Neugass Kino AG das Programm aller beteiligten Kinos», so Daniela Küttel, Mitglied der Geschäftsleitung der Neugass Kino AG. «Unser Transformationsprojekt ist der Ausdruck dieser Zusammenarbeit: Alle damit zusammenhängenden Filme und Dienstleistungen werden auf einer einzigen Plattform angeboten.»

Neue Wege finden, um das Publikum zu erreichen, über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus: Dieses Ziel hat sich auch die Kinemathek Bern (Lichtspiel) gesetzt, die Ende Jahr eine neue Website lanciert, um ihre Schätze dem breiten Publikum zugänglich zu machen (siehe S. 9). «Ziel ist es, unsere Sammlung und unser Fachwissen allen zugänglich zu machen», so der Leiter David Landolf. «Wir arbeiten zurzeit an der Schaffung eines virtuellen dreidimensionalen Museums, das einen grossen Teil unseres Bestands enthalten soll: natürlich unsere digitalisierten Filme, aber auch andere Objekte wie alte Projektoren, Plakate, Zeitungsausschnitte usw.» Zudem drehen die Mitarbeitenden in den Räumlichkeiten der Kinemathek Videos, in denen sie ihre Tätigkeit vorstellen und Tipps geben im Umgang mit empfindlichem Material, wie zum Beispiel beschädigten Filmrollen. 

 

Filmzeitschrift veranstaltet neu

Auch die 1959 gegründete Zeitschrift Filmbulletin mit Sitz in Zürich durchläuft einen tiefgehenden Wandel. Ihr Projekt «Vom Printmagazin zum Multimediahaus», für welches das dreiköpfige Team einen Beitrag von 300’000 Franken erhielt, will in Ergänzung des Printmagazins verschiedene digitale Kanäle entwickeln und die Zeitschrift durch vermehrte Präsenz an Veranstaltungen im Stil eines Filmclubs stärker positionieren. «Wir leben für die Filmkritik, die Auseinandersetzung mit dem Film», so Michael Kuratli, seit 2020 Co-Chefredaktor von Filmbulletin. «Rund um diesen Kernbereich herum, der auf unserer neuen Website zum Ausdruck kommt, möchten wir hybride Kooperationen mit Kinos eingehen, um ein Streaming-Angebot in unser Abonnement einschliessen zu können.» Konkret sollen zum Beispiel wichtige Kinostarts mit Events und Diskussionen begleitet werden. Zudem soll online eine Auswahl an Filmen angeboten werden, die thematisch mit einem aktuellen Film in Verbindung stehen. «Wir möchten nach Deutschland und Österreich expandieren und unsere sechzigjährige Geschichte aufwerten. So besitzen wir zum Beispiel ein Audio-Interview mit François Truffaut und andere Archivperlen, denen man bezugnehmend auf Aktuelles neues Leben einhauchen und so zugleich das Bewusstsein für die Filmgeschichte fördern könnte.»  

 

Originaltext Französisch

 

In Zahlen

5'571'667 

Anzahl Kinoeintritte 2021. Das sind 23,69 Prozent mehr als 2020, aber 57 Prozent weniger als 2019

 

1739 

Anzahl der schweizweit von Oktober 2020 bis April 2022 eingereichten Gesuche für Transformationsprojekte

 

60 Millionen Franken 

Gesamtbetrag der gesprochenen Beiträge für Transformationsprojekte

 

Fünf Projekte

Cinéma Bellevaux, Lausanne

Vier Monate dauerte der Umbau des Cinéma Bellevaux im letzten Sommer, um «das Nervensystem des Kinos, das heisst sein gesamtes Bild- und Tonsystem, komplett neu zu gestalten», so Gwenaël Grossfeld, Ko-Leiter des Lausanner Kinos. Das neue Tonsystem besteht aus 23 voneinander unabhängigen Lautsprechern. Normalerweise werden die Lautsprecher in Reihe geschaltet, sowohl für die Stimmen als auch für Musik und Effekte. Weil sie nun alle einzeln ansteuerbar sind, kann das Soundsystem des Saals entweder perfekt auf Standard-Filmvorführungen abgestimmt werden oder aber in Zusammenarbeit mit eingeladenen Künstlern Klänge produzieren, die man genau im Saal verorten oder in Bewegung setzen kann. «Einen Klang im Saal von vorne nach hinten zu bewegen ist nur möglich, wenn alle Lautsprecher  voneinander unabhängig sind.» So entstehen unzählige Möglichkeiten der Interaktion mit dem projizierten Bild, zum Beispiel im Rahmen einer Performance. Derzeit läuft die Multicast-Audio-Performance-Reihe «The Centerpoint» mit Klangstücken, die verschiedene Künstler speziell für diesen Saal geschaffen haben und die in absoluter Dunkelheit aufgeführt werden, um ein komplettes Eintauchen zu ermöglichen.  

 

Lichtspiel, Kinemathek Bern

Im Lichtspiel, Kinemathek Bern haben Leiter David Landolf und sein Team den externen Dienstleister Fugu mit der Einrichtung eines virtuellen dreidimensionalen Museums beauftragt. Die Besucher:innen können darin von Saal zu Saal gehen und per Mausklick Videoausschnitte aus einem kleinen Teil der 30’000 digitalisierten Filmrollen entdecken, darunter «Amateurfilme, alte Werbespots und andere Perlen. Wir werden auch eine umfangreiche Stichwortsuche einrichten, damit ein Benutzer zum Beispiel gezielt nach Animationsfilmen aus den 1950er-Jahren suchen kann.» Eintritt wird keiner verlangt, doch wer will, kann eine freiwillige Spende leisten. In Video-Tutorials wird die tägliche Arbeit des Teams vorgestellt und unter anderem gezeigt, wie man eine Filmrolle identifiziert oder die Lampe eines Super-8-Projektors auswechselt. «Wir werden auch weiterhin zu fixen Zeiten Live-Streams anbieten, die auch im Ausland zugänglich sind. Dabei wollen wir vorgängig in unserem virtuellen Museum zeigen, wie eine analoge Filmvorführung technisch vorbereitet wird, um das Publikum darauf einzustimmen.»  

 

Projekte für Kinder und Jugendliche

Mehrere Unternehmen haben sich mit innovativen Projekten verstärkt dem jungen Publikum zugewandt. So hat das Festival Visions du Réel eine VoD-Plattform für Schulen lanciert. Dank «VdR at School» konnten über 1’500 Schüler:innen sich online Dokumentarfilme ansehen. «Unser Ziel ist es, den Jugendlichen ein weniger konventionelles Kino näherzubringen», so die operative Leiterin Martine Chalverat. «VdR at School» hat auch einen Filmclub für kinobegeisterte Schüler:innen aus der ganzen Westschweiz gegründet, der Online-Vorführungen und monatliche Treffen mit Filmschaffenden organisiert. Das CityClub in Pully hat ein Musikprogramm für Kinder ins Leben gerufen. «Die erste Saison, die Ende Mai 2022 zu Ende geht, lief sehr gut; die sechs Konzerte wurden von rund 1’000 Kindern besucht. Nächste Saison fahren wir mit vier weiteren Konzerten fort», so die für die Administration verantwortliche Laura Grandjean. 

Die Zauberlaterne hat sich zu ihrem 30-jährigen Jubiläum etwas Besonderes einfallen lassen, um ihr Publikum zurückzugewinnen: In Zusammenarbeit mit Schauspieler:innen bietet der Filmclub für 6-12-Jährige von August bis Oktober 108 öffentliche und kostenlose Jubiläumsvorstellungen für Familien an 78 Orten in der ganzen Schweiz (40 in der Westschweiz, 32 in der Deutschschweiz und 6 im Tessin). «Mit diesen Veranstaltungen wollen wir auch ehemalige Klubmitglieder ansprechen», so Geschäftsführer Ilan Vallotton. «In den letzten 30 Jahren besuchten die Zauberlaterne fast eine halbe Million junge Zuschauer:innen. Längerfristig beabsichtigen wir auch, ehemalige Mitglieder in einer Community mit dem Namen «Verzauberte Generation» zu vereinen, die auf verschiedene Weise bei der Lancierung der Programmzyklen mitwirkt.» 

 

 

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