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«Es geht um Wahrnehmung»

Adrien Kuenzy
31. Mai 2022

Laurent Haug © World Economic Forum / Sikarin Thanachaiary

Laurent Haug ist Spezialist für digitale Transformation, Gründer der Lift-Konferenzen und der Agentur 200ideas sowie Autor der Serie «Wer hat’s erfunden» über die Geschichte der Innovation. Ein Gespräch über den Transformationsbedarf im Film- und Kultursektor.

 

Was ist die grösste Herausforderung für Kulturunternehmen?

Wahrgenommen zu werden. Die Aufmerksamkeitsspanne im Web ist sehr kurz, im Schnitt nur wenige Sekunden. Im unablässigen digitalen Fluss müssen Unternehmen sich etwas einfallen lassen, um aufzufallen. Zudem müssen reale und virtuelle Welt zusammenspielen, denn die eine führt das Publikum der anderen zu. So entsteht eine Aufwärtsspirale, in der sie sich gegenseitig stärken.

 

Schadet die ständige Suche nach Aufmerksamkeit zuweilen dem künstlerischen Schaffen?

Natürlich. Einen Film auf ein YouTube-Video von 10 Sekunden zu kürzen ist immer zweischneidig: Einerseits verletzt es die Integrität des Films, andererseits lockt es Publikum ins Kino. Um hier wirkungsvoll arbeiten zu können, muss man Inhalte von Anfang an so konzipieren, dass sie den Besonderheiten jedes Mediums Rechnung tragen können, denn um auf Facebook, LinkedIn oder Instagram Erfolg zu haben, braucht es immer spezifischere Ansätze. Die Kunst des Storytelling am Fernsehen brauchte dreissig Jahre, um sich zu etablieren, und verdankt dies in erster Linie den Serien. Es reichte nicht, grosse Filmemacher:innen fürs Fernsehen produzieren zu lassen. Bei den digitalen Formaten ist dies nicht anders.

 

Muss das Kino sich neu erfinden?

Natürlich, das Kino muss die jungen Generationen abholen. Die Branche steht heute mit dem Rücken zur Wand, weil sie sich zu lange gegen Veränderungen gesträubt hat. Man hätte die «fetten Jahre» nutzen müssen, um neue Modelle zu testen und herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Dann müsste man nicht zu einer Zeit erneuern, in der die Kassen leer sind. Das ist schade, doch so erging es auch der Musikindustrie, die zehn Jahre lang nicht wahrhaben wollte, dass digitale Formate unausweichlich sind. Filme wird es immer geben, die Frage ist nur in welcher Form. In Südkorea werden viele Kinosäle für Gaming-Anlässe genutzt. Weshalb versucht man das nicht auch bei uns? Ich finde das nicht abwertend, im Gegenteil. Man muss nach Lösungen suchen, um die Möglichkeiten zu erweitern.

 

Was erwarten Unternehmen, die Sie engagieren, von Ihnen?

Grundsätzlich möchten sie in Zeiten des Umbruchs die Risiken mindern. Viele denken, ich sei eine Art Orakel, aber das bin ich nicht. Niemand kann die Zukunft vorhersagen. Doch ich bringe Unternehmen dazu, sich die richtigen Fragen zu stellen. Zudem bringe ich Ideen ein, die ich auf dem Markt sehe, insbesondere als Investor, der jedes Jahr hunderte von Geschäftsberichte liest.

 

Wie kann man das Publikum erweitern?

Man muss der neuen Generation mehr Raum geben. Es erschreckt mich immer, wenn ich vor einem Verwaltungsrat stehe, der nur aus Herren mittleren Alters besteht. Ich habe nichts gegen diese Bevölkerungsgruppe, zu der ich selbst gehöre, doch jede Firma sollte ihre Zielgruppe widerspiegeln. Will man junge Leute ansprechen, so muss man sie mit einbeziehen und ihnen Entscheidungskompetenz geben. Gemäss dem Schweizer Business-Guru und Miterfinder des Business Model Canvas Alex Osterwalder gibt es zwei Kräfte, die sich in einem Unternehmen die Waage halten müssen: Die eine konzentriert sich auf den bestehenden Betrieb, und die andere sondiert, testet, macht Fehler, sucht nach Ideen für eine mögliche Zukunft. Die Filmbranche kann nur gewinnen, wenn sie mehr Risiken eingeht. Man muss die Komfortzone verlassen, Neuerungen eine Chance geben, selbst wenn das Ergebnis immer ungewiss ist. Einer von zehn Versuchen wird erfolgreich sein und neue, vielversprechende Möglichkeiten eröffnen. Der Status quo ist so bequem, dass viele Unternehmen am Steuer einschlafen. Eines Tages erwachen sie und stellen fest, dass es Netflix gibt. Doch Netflix wurde 1997 gegründet und brauchte fünfzehn Jahre, um der Filmbranche unbequem zu werden. Die Anzeichen waren schon lange da, aber niemand wollte sie sehen.  

 

Originaltext Französisch

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