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«Es geht um Marktpräsenz»

Pascaline Sordet
25. Juni 2020

Anaïs Emery verlässt das NIFFF nach der Sonderausgabe. © Nicolas Brodard

Wie Lili Hinstin und Anaïs Emery, die künstlerischen Direktorinnen von Locarno und des NIFFF, Sonderausgaben ihrer Festivals unter den Vorzeichen der Coronakrise planen. Und welche grundsätzlichen Fragen sie sich dabei stellen. Ein Doppelgespräch.

 

Wie erleben Sie die gegenwärtige Zeit und die Ungewissheiten rund um Ihre Veranstaltungen?

Lili Hinstin Letzte Woche an einer Sitzung des Vereins Conférence des festivals tauschten wir Erfahrungen und Fragen aus. Mir fiel auf, wie sehr diese Situation den Teams Flexibilität, andere Kompetenzen und neue Kenntnisse abverlangt. In Locarno, und das gilt für alle Festivals, arbeiten wir ausserhalb unserer gewohnten Kompetenzen. Wir müssen uns mit Digitalangeboten, Streaming und Rechts­problemen befassen. Das sind sehr wichtige Fragen, und wir lernen viel dazu. Die Löhne der Teams sind garantiert; wir arbeiten, um die Leute zu schützen. Wir stecken nicht in Schwierigkeiten wie ein Produzent oder eine Filmemacherin.

Anaïs Emery Wir sprachen über die Not der Teams und wie wichtig es ist, sie zu erhalten und nicht zu ersetzen. Für uns beim NIFFF war die schwierigste Phase, als wir die verschiedenen Szenarien prüfen mussten.

LH Ja, das stimmt!

AE Wir zogen drei Szenarien in Betracht, mit einer Ankündigungsfrist per Ende April. Ich rief alle mir bekannten Direktoren und Programmgestalterinnen auf der ganzen Welt an und hörte zu, welche Ideen und Lösungen sie hatten. Unser wichtigstes Kriterium war, den Geist unseres Festivals zu erhalten. Der Prozess war interessant, denn das Festival wurde positiv hinterfragt. Für mich war der Moment des Entscheids ziemlich mühsam: ob wir reguläre Veranstaltungen durchführen wollten oder nicht, ohne die Lockerungspläne zu kennen, die rascher kamen, als wir dachten.

 

Stellten Sie in Locarno ähnliche Überlegungen an?

LH Sobald bekannt war, dass Anlässe mit über Tausend Personen bis Ende August verboten bleiben würden, war es für uns undenkbar, das Risiko eines regulären Festivals einzugehen. Selbst wenn wir uns in unseren Arbeitshypothesen vorstellten, die Piazza Grande von 1973 mit tausend Plätzen nachzubilden, mit der nötigen Distanz zwischen den Menschen … Doch auch dieses Szenario bedingt, viele Leute in einer kleinen Stadt zusammenzubringen, und in den Bars und Gassen wäre die Sicherheit nicht zu gewährleisten. Wir können dieses Risiko nicht eingehen. Hingegen möchten wir um jeden Preis Filmvorführungen mit Publikum organisieren; wenn sich also Anfang August die Möglichkeit bietet, bestehende Kinos zu nutzen, werden wir das tun.

 

Sie haben in Neuenburg ganz auf die Wettbewerbe verzichtet; weshalb?

AE Der «Narziss für den besten Film» drückt einem Festival den Stempel auf. Als wir erkannten, dass wir keinen internationalen Wettbewerb und keinen Schweizer Kurzfilmwettbewerb würden durchführen können, war uns klar, dass es 2020 keine reguläre NIFFF-Festivalausgabe geben würde und wir unser Jubiläum auf 2021 verschieben müssen. Dieser Jahrgang ist daher eine Sonderausgabe, eine ohne Nummerierung.

 

Und in Locarno, was überlegten Sie sich zu den Wettbewerben?

LH Wir waren hin- und hergerissen. Unser Leitgedanke war: Was ist unsere Aufgabe? Ich stimme Anaïs zu: Wir besinnen uns wieder auf die Grundlagen unseres Auftrags. Wir sind da, um den Filmen zu dienen, nicht umgekehrt. Wir sind ein Sommerfestival par excellence, wie viele Musik- und Theaterfestivals. Die Leute gehen baden, wandern und geniessen das Freiluftkino. Ausserdem ist Locarno ein Festival mit einer grossen Programmvielfalt, und wir hoffen jeweils, dass die Leute sich von einem Angebot zum anderen bewegen. Dieses Konzept können wir online nicht umsetzen, und Mitte August kann ich mir das erst recht nicht vorstellen.

 

Das NIFFF lanciert im Juli ein Online-Angebot; wird Ihnen das schöne Wetter nicht einen Strich durch die Rechnung machen?

AE Man darf nicht vergessen, dass es in einem Monat so weit ist. Angesichts der näher rückenden Termine und der Intensität der vor uns liegenden Arbeit, macht das einen Unterschied. Doch es bedeutet nicht, dass ohne Festival kein vielfältiges Programmangebot möglich ist. Wir haben beschlossen, eine Premium-Auswahl von zwanzig Titeln zu treffen, die online verfügbar sind. In der Darstellung des Imaginären gibt es einige wirklich interes­sante Filme im Zusammenhang mit der Krise, die wir durchmachen. Wir haben nicht den Anspruch, so viele Zuschauer zu erreichen wie ein physisches Festival, doch zwanzig Filme zwischen dem 3. und 11. Juli sind meines Erachtens ziemlich realistisch. Nur wenige Leute sehen sich innerhalb von zehn Tagen gar keinen Film an, vor allem unter dem NIFFF-Publikum, das jünger als 35 Jahre und sehr konsumfreudig ist.

LH Auch wir verzichten nicht auf Online-­Aktivitäten! Es geht nicht um Ideologie, sondern darum, was man zeigt. Bei Weltpremieren von Spielfilmen wären wir nicht in der Lage, unsere Arbeit richtig zu machen. Für die Kurzfilme hingegen, die einer ganz anderen Ökonomie folgen und oft sehr junge Filmschaffende betreffen, haben wir beschlossen, ein System einzurichten, das es uns ermöglicht, einen Wettbewerb zu veranstalten, der mehr oder weniger dem gewohnten entspricht.

 

Wenn Sie beschlossen hätten, die Wettbewerbe durchzuführen, hätten Sie genügend Filme gefunden?

LH Ich stand ganz am Anfang der Auswahl, und die meisten Verkäufer hatten nichts gegen die Idee, online zu gehen, denn für sie geht es um die Marktpräsenz. Sie wollten eine gestaffelte Verbreitung ihrer Filme sicherstellen, insbesondere in Anbetracht der unsicheren Zukunft. Die Regisseure und Produzentinnen wären wahrscheinlich weniger einverstanden gewesen.

AE Ich habe dieselbe Erfahrung gemacht. Wir erhalten viele Vorschläge; wir hätten Filme gefunden, doch es hätten sich Probleme mit unseren Ansprüchen an die Vielfalt, die Qualität und die vertretenen Genres ergeben. Und dann braucht es in dieser Krise eine dauerhafte Lösung: Nach 2020 kommt der Jahrgang  2021, und wahrscheinlich werden nur sehr wenige Filme auf den Markt kommen. Wir müssen also zwei Dinge gleichzeitig beachten.

 

Was halten Sie von der Online-Ausgabe von Visions du Réel, das sich extrem schnell und flexibel neu erfunden hat?

LH Das ist eine sehr gute Erfahrung. Sie reagierten unter höchstem Zeitdruck, kein Vergleich mit dem, was wir organisieren mussten. Die Auswahl war ja bereits angekündigt! Ausserdem fand das Festival während des Lockdowns statt, also in einem ganz anderen Kontext, mit einem Publikum, das zu Hause festsass. Und für den Dokumentarfilm gilt eine andere Ökonomie als für die Fiktion.

 

Was finden Sie am spannendsten in dieser Krisenzeit?

AE Ich mag das Neue und die Herausforderung, doch aus dieser Krise lässt sich nicht viel Positives gewinnen: Es gab Tote, wir relativieren unsere Lage. Dazu ist diese Krise dramatisch für uns – wir wollten unser 20-jähriges Jubiläum feiern, seit drei Jahren bereiten wir uns darauf vor, ausserdem ist es mein letztes Jahr … Die Jubiläumsausgabe wurde verschoben, Programme, die mir am Herzen liegen, insbesondere das Programm zum Thema Ökologie in Zusammenarbeit mit dem naturhistorischen Museum, werden beibehalten. Ich freue mich darauf, die 20. NIFFF-Ausgabe zu feiern, aber in und mit der Öffentlichkeit. In der Zwischenzeit haben wir für die Sonderausgabe Wege gefunden, um mit dem Publikum zu interagieren (siehe Kasten) und gleichzeitig den Geist des Jubiläums erhalten zu können.

 

Und welche Gedanken macht man sich in Locarno?

LH Im Moment bin ich voll und ganz mit unserem neuen Projekt «The Films after Tomorrow» beschäftigt. Statt einer Auswahl bieten wir eine Hilfe für jene Filme, welche jetzt stark leiden. Wir werden die Preise an Filme vergeben, die in Not sind und an denen nicht mehr weitergearbeitet werden kann. Viele bekannte Namen aus der internationalen Filmwelt berichten uns von ihren Schwierigkeiten. Das Konzept erlaubt uns nicht nur, ein paar Filmen zu helfen; die zwanzig ausgewählten Filme ergeben wie selten das Bild einer Produktion von Autoren, die künstlerische und ästhetische Risiken eingehen.

 

Was nehmen Sie aus diesen Umbruch mit?

AE Ich interessiere mich sehr für Fragen der Nachhaltigkeit. Wir sind eine neue Generation, die, auch in dieser Krise, Ansätze sucht, die für uns und auch für die Branche tragfähig sind. Natürlich gibt es noch finanzielle Ängste, der Bund hat die Kurzarbeit für subventionierte Organisationen in Frage gestellt, es könnte also noch schiefgehen. Nicht für das Kernteam, sondern für alle, die am Festival arbeiten. Doch es ist wichtig, die Fähigkeiten der Teams zu erhalten und keine Leute zu verlieren. Das macht den Charakter und die Stärke einer Veranstaltung aus.

 

Waren Ihre Finanzgeber für Sie da?

AE Das NIFFF kann auf eine substantielle private Finanzierung zählen, je nach Jahr ungefähr 30 bis 35 Prozent. Unsere Partner sind sehr solidarisch. Wir haben Lösungen vorgeschlagen, ihre Sichtbarkeit ist gut, und es ist unser Ziel, die 20. Ausgabe unter bestmöglichen Voraussetzungen durchzuführen. Zu Beginn der Krise gab es viel Solidarität und jetzt dauert sie an. Letztlich handelt es sich ja um eine mehrjährige Angelegenheit. Manchmal mache ich mir Sorgen um das nächste Jahr. Falls dann immer noch Sicherheitsmassnahmen gelten, werden wir schrumpfen müssen, und ich hoffe, dass uns jene Stellen, die sich um die Zahlen sorgen und eine Konkurrenz zwischen den Festivals erzeugen, wo sie nicht nötig ist, uns nicht negativ beurteilen oder ungenügend finanzieren werden.

LH Ich teile diese Bedenken voll und ganz. Ich mag gar nicht an 2021 denken. Wir sind dabei, das Jahr 2020 vollständig neu zu überdenken, das braucht ja schon viel Energie und Vorstellungskraft. Finanziell konnten wir sofort auf die starke Solidarität unserer Hauptsponsoren zählen und uns auf dieser Grundlage detailliert mit der Anpassung ihrer Beiträge und deren Sichtbarkeit befassen. Und ich darf sagen, dass es den Teams von Locarno gelungen ist, diese Verhandlungen mit einer beispiellosen Flexibilität zu führen. Sie sind sehr stark und sehr solidarisch.

AE Was sich ebenfalls in den Gesprächen unter den Festivals gezeigt hat: Die Teams investieren viel Energie, um Neues zu lernen und Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Wir machen Aussergewöhnliches durch.



▶  Originaltext: Französisch

DIE NIFFF-SONDERAUSGABE

Als Reaktion auf die Verschiebung seiner 20. Ausgabe bietet das NIFFF eine Sonderausgabe mit siebzehn in der Schweiz unveröffentlichten Filmen und drei Werken aus dem Retroprogramm Fantastique 20 20 20, das sich bis zum nächsten Sommer fortsetzt. Die Filme werden vom 3. bis 11. Juli auf der Streaming-Plattform Cinefile angeboten, in Originalversion mit deutschen und französischen Untertiteln. Das kostenpflichtige Angebot ist nur in der Schweiz zugänglich. Als einziger Preis wird der RTS-Publikumspreis verliehen. Die Zuschauer können über die App des Festivals unter den siebzehn aktuellen Filmen ihren Favoriten auswählen.

Ergänzend zum Programm bietet eine NIFFF TV-Show täglich um 21 Uhr Hintergrundinformationen zu den Filmen und Spezialeffekten sowie zur aktuellen Lage. Mit dabei sind Studiogäste aus der Schweiz sowie Filmschaffende, die ihre Filme per Live-Zuschaltung vorstellen. Zudem geben Filmschaffende wie Luca Guadagnino oder Nicolas Winding Refn eine Masterclass. Diese sind auf der Website und über die App des Festivals abrufbar.

Alle Informationen sowie das Programm finden Sie auf der Website nifff.ch

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