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Das Online-Festival als Blackbox

Doris Senn und Mischa Schiwow
25. Juni 2020

Bild: Unsplash

Auch Visions du Réel fand dieses Jahr im Netz statt. Solche Online-Editionen kann man, in Zeiten von Reiseverboten, als beglückend empfinden – und doch den Austausch vermissen. Zwei Erfahrungsberichte.

 

Das Jahr 2020 stellt(e) die Filmfestivals vor grosse Herausforderungen. Wer noch stattfinden konnte (Berlinale), atmete auf. Andere sagten bald schweren Herzens ab (Fribourg, Cannes, Locarno). Wieder andere wag(t)en sich aufs Netz – als eines der ersten Festivals: Visions du Réel, das in einem Kraftakt das gesamte Programm online schaltete und den Zugang zu den Filmen mittels einfacher Registrierung gewährte. So standen den Cinephilen ab Mitte April über eine etwas verlängerte Festivalzeit rund 150 Titel aus 60 Ländern zur Verfügung. Das Sofa mutierte zum Hub und der digitale Bildschirm zum sprichwörtlichen Fenster zur Welt. In Zeiten von Lockdown und Reiseverbot: Paradise! Und weil das komplette Programm online gestellt wurde, war die DNA des Festivals trotz allem klar erkennbar.

Das Streaming hatte den Vorteil, dass sich das Filmschauen dem persönlichen Tagesplan anpassen liess und man nicht in die üblichen Zwickmühlen der Qual der Wahl kam: Man schaute konsekutiv, konnte – wenn man mit einem Film partout nicht warm wurde – einfach raus, ohne im Dunkeln mit schlechtem Gewissen über die Sitznachbarn klettern zu müssen – und sah so einiges, was man sonst kaum unter einen Hut gebracht hätte. Ausser der Film war ausverkauft – denn der Zugang war, wie im richtigen Festivalleben, beschränkt (auf 500 Abrufe). So genoss man das gebündelte virtuelle Reisen, rund um die Welt, nah und fern, mit Einblicken in Communities, Familien, Persönlichkeiten. Ausserdem: Es gab Online-Einführungen der Regisseurinnen und Regisseure, Q&A, Masterclasses und Diskussionen, auch wenn die Dynamik mit Zoom & Co. zuweilen etwas litt. Und weil selbst die Auszeichnungen vom Sofa oder Schreibtisch aus verliehen oder entgegengenommen wurden, kam man in den Genuss vieler charmanter Selbstinszenierungen.

Obwohl der Zugang zu den Filmen auch auf einen Zeitraum beschränkt war, erreichten die Visions du Réel rekordhohe 60ʼ000 Zuschauerinnen und Zuschauer (45ʼ000 waren es 2019). So bleibt zu hoffen, dass das Festival – seinem Mut zum Streaming sei Dank! – national und international mehr Sichtbarkeit erhielt und, wer weiss, vielleicht auch neue – jüngere – Publikumssegmente für sich gewinnen konnte.

Doris Senn, Filmjournalistin SVFJ


▶  Originaltext: Deutsch

 

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Mitten im Lockdown fand das Festival Visions du Réel statt – nicht wie gewohnt im Städtchen Nyon, sondern virtuell im Netz. Dass die Organisatorinnen diese Veranstaltung so schnell umpolen konnten, ist eine Leistung, die grosse Anerkennung verdient. Als eines der ersten Online-Festivals gab es wenig Erfahrungen, auf welche man sich stützen konnte. Es galt das Publikum davon zu überzeugen, sich auf die so präsentierten Filme einzulassen. Das ist in meinen Augen bei den Filmprofis – Regisseurinnen, Fernsehleuten, Filmkritikern etc. – besser geglückt als bei den normalen Festivaliers. So lag der Akzent stark auf den «Industry Meetings», welche täglich per Videokonferenz abgehalten wurden und gemäss Angaben des Festivals regen Anklang fanden.

Hingegen, und das ist mein hauptsächlicher Kritikpunkt, gab es für Liebhaber von Dokumentarfilmen zwar viele Filme zum Konsumieren, aber wenig von dem, was Nyon als besonderen Ort auszeichnet: Die Vermittlung und Einbettung der Filme in einen Diskurs und einen ständigen Dialog mit dem Publikum. Gewiss konnten einige Filmschaffende – vor allem diejenigen aus der Schweiz – ihre Filme in kurzen Videobotschaften vorstellen und wurden mit vorab produzierten
­­­­­­­«Q&A» zu ihren Werken befragt. Aber nirgends fand ein Austausch zwischen  Regie und Publikum statt: Keine Plattform, wo Meinungen oder Fragen, Lob oder Kritik deponiert werden und ein Dialog entstehen konnte. So wurde das Festival letztlich auch für die Filmschaffenden zur eigentlichen Blackbox. Fast alle Streaming-Angebote waren bald ausgebucht, was zwar vom Interesse des Publikums zeugt, aber keine Rückschlüsse darauf zulässt, wie die Filme in den Stuben, vor Laptops oder auf Smartphones rezipiert wurden. 

Meine Bilanz ist nuanciert, weil ich mich frage, ob das Lob für einen solchen, im Grund verzweifelten Rettungsversuch eines Filmfests (geht es doch um die Begegnung und gemeinsames Feiern...) nicht letztlich kontraproduktiv sein könnte: Birgt die rein technisch gesehen reüssierte Umstellung auf die Online-Plattform nicht die Gefahr, dass diese anonyme Auswertung Schule macht und gerade den nur an Festivals auf der grossen Leinwand gezeigten Filmen das letzte Fenster wegnimmt? Es bleibt zu hoffen, dass die Ausnahme nicht zur Regel wird.

Mischa Schiwow, Filmpromotionsagentur Prochaine, Zürich

 

▶  Originaltext: Deutsch

 

 

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