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Die Cinémathèque ist erwachsen geworden

Pascaline Sordet
27. September 2019

Die Cinémathèque suisse hat drei Standorte: den Hauptsitz in Lausanne, die Dokumentationsstelle Zürich und das neue Zentrum von Penthaz (im Bild). © Roger Frei

Nachdem das neue Forschungs- und Archivierungszentrum in Penthaz nach zehnjähriger Bautätigkeit eröffnet wurde, richtet der Direktor der Cinémathèque den Blick in die Zukunft.

Wer über die Zukunft der Cinémathèque spricht, kann ihre jüngere Vergangenheit nicht ausser Acht lassen. Nach einem Audit der Finanzkontrolle im Jahr 2015 brauchte die Cinémathèque Zeit, um ihr öffentliches Image wiederherzustellen. Der Bericht wies auf mangelnde Transparenz im Finanzmanagement hin – ein ­Mangel, den die Cinémathèque bereits selbst festgestellt hatte und im Begriff war, zu beheben. Gemäss ihrem Direktor Frédéric Maire handelte es sich um eine Art Missverständnis: «Wir mussten unsere Organisation, die aus bescheidenen Mitteln entstanden ist, zur professionellen nationalen Institution entwickeln und steckten mitten in diesem Prozess. Leider entbrannte die Polemik kurz vor der Diskussion über die Kulturbotschaft 2016-2019 und beeinträchtigte so die Gespräche über die Integration digitaler Technologien in das Gebäude.» Seither wurde mit dem BAK ein Verfahren zur regelmässigen Prüfung eingeführt, die Bauarbeiten konnten ohne Budgetüberschreitung beendet werden und die Cinémathèque ist erwachsen geworden.

 

1. Forschungszentrum

Trotz einer kleinen Ausstellung von Film­plakaten und Geräten im Eingangsbereich ist das Archiv in Penthaz kein Museum. «Die Cinémathèque stellt nicht aus, sie führt vor. Die Leinwände sind unsere Vitrinen. Eine ­klassische Ausstellung wird dem Film nie gerecht», bekennt Frédéric Maire. Das Archivierungszentrum ist folglich ein Ort der Forschung und des Studiums. «Unsere wichtigste Aufgabe besteht darin, für das Filmschaffen Dienstleisterin zur Aufbewahrung und zur Nutzung der Archive zu sein. So beginnt ‹L’expérience Blocher› mit ­Bildern des Rheinfalls, die aus unserem Bestand stammen. Zudem dienen wir als Ressource für Studien über den Schweizer Film und die Schweizer Kinoindustrie.» Die umfassende Sammlung von Filmen, aber auch von anderen, als «nicht-Film» klassifizierten Elementen wie Zeitungsausschnitte, Drehbücher und Arbeitsmappen, stellt eine möglichst genaue Abbildung des Schweizer Films dar. Acht vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützte und von der Universität Lausanne durchgeführte Projekte nutzen den Bestand der Cinémathèque für ihre Arbeit.

 

2. Pädagogischer Auftrag

Ein Besuch in Penthaz enthüllt eine andere, unsichtbare Seite der Cinémathèque: Über ihre Kinosäle in Lausanne hinaus ist die Insti­tution eine äusserst geschäftige Zentrale, wo gesichert, restauriert, katalogisiert und digitalisiert wird. Das richtige Personal dafür zu finden ist nicht einfach: «Im Gegensatz zu Frankreich gibt es in der Schweiz, mit Ausnahme eines eher bescheidenen Moduls im Rahmen des Netzwerk Cinema CH, keine spezifische archivarische Ausbildung für den Filmsektor. Deshalb haben wir mehrere Angestellte, die im Ausland ausgebildet wurden, und wir möchten eine solche Ausbildung entwickeln.»

 

3. Im Dienst der Filmbranche

Für einen jungen Filmemacher ist Archivierung sicher keine Priorität. «Gewiss, aber sein Werk muss in Zukunft zugänglich sein», sagt Frédéric Maire. Sein Appell an Filmemacher und Produzenten: «Kommt uns besuchen! Entdeckt, welchen Nutzen wir euch bringen und wie wir euch helfen können, eure Filme auf die bestmögliche Art zu erhalten. Anstatt Sicherheitskopien zu erstellen und diese selbst aufzubewahren, bringt uns eure Festplatten, und wir kümmern uns darum.» Der Direktor selbst hat zwar seine persönlichen Archive trotz wiederholter Aufforderung seiner Mitarbeiter bisher nicht in die Cinémathèque gebracht, gelobt jedoch, dies zu ändern.

 

4. Erste Aufgabe: restaurieren

Die Filmrestaurierung, nicht zu verwechseln mit der Digitalisierung, betrifft Filme in besorgniserregendem Zustand. Dies ist bei Schweizer Filmen häufig der Fall, wenn die Kinokopien aus Kostengründen direkt ab dem Original­negativ erstellt wurden statt ab einem Inter­negativ. Die Filme werden analysiert, digitalisiert, Bild für Bild möglichst originalgetreu restauriert und dann wieder auf Film ausbelichtet. Ein teurer und zeitaufwändiger Prozess, der extern durchgeführt wird, «bei den Filmen, die dieses Jahr in Locarno gezeigt wurden, zu gleichen Teilen in der Schweiz wie im Ausland». Digitalisiert werden Filme in gutem Zustand, die heute nicht mehr vorgeführt werden ­können, da kaum mehr 16mm- oder 35mm-Projektoren betrieben werden. Die Cinémathèque hat nur für die Filmrestaurierung finanzielle Mittel, die von Memoriav, dem Fernsehen und teilweise den Produzenten selbst investiert werden. «Zur Zeit haben wir kein Geld für die Digitalisierung des Schweizer Films, doch dies wird sich bald ändern. Wir haben gemeinsam mit dem Bund beschlossen, dass dies der nächste Schritt sein wird.»

 

5. Digitalisierung des Schweizer Films

Derzeit wird über eine systematische Digitalisierung des Schweizer Films diskutiert. «Dies soll in Zusammenarbeit mit Labors geschehen. Die Negative würden in der Cinémathèque analysiert und dann extern digitalisiert, idealerweise in der Schweiz.» Die Umsetzung eines solchen Projekts erfordert beträchtliche Mittel, doch die Kulturbotschaft hat die Digitalisierung zur Priorität erklärt. Doch nach welchen Kriterien würden die Filme ausgewählt? «Das BAK übernimmt hier den Lead und ernennt einen repräsentativen Ausschuss aus der Filmbranche, der berücksichtigen soll, was bereits digitalisiert wurde, und sich mit Fragen wie sprachliches Gleichgewicht, Relevanz der Werke und externen Anfragen befasst.» Der Ständerat hat mit 19 gegen 13 Stimmen gerade eine Motion von Géraldine Savary (SP/VD) zur Schaffung eines Digitalisierungsfonds angenommen, der mit den Einnahmen aus der 5G-Frequenzzuteilung – immerhin 340 Millionen Franken – finanziert werden soll.

 

6. Filme sichtbar machen

Zuerst sichern, dann digitalisieren: Die ersten beiden Schritte sind klar. Danach geht es darum, die Filme der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: «Dies ist die dritte Phase, über die aktuell diskutiert wird, insbesondere in Bezug auf die digitalen Plattformen.» Braucht es eine Plattform des BAK? Eine Plattform der Cinémathèque Suisse? Einen Deal mit einer bestehenden Plattform? Eine Zusammenarbeit mit der SRG? Die Fragen sind offen, und die Entscheidung liege beim BAK, erklärt Maire. «Eine Schweizer Plattform in der Schweiz ist eine gute Sache», fügt er an, «doch ich finde, sie muss weltweit zugänglich sein.» Dies wirft die komplexe Frage der territorial geltenden Urheberrechte auf, die für jedes Land einzeln verhandelt werden müssen.

 

7. Digitale Strategie

Wie Frédéric Maire gerne betont, organisierte er im Jahr 2006 als Erster eine digitale Vorführung auf der Piazza Grande von Locarno. Die Räumlichkeiten in Penthaz sind nun eingerichtet für eine professionelle digitale Archivierung. Allerdings ist die Frage der Digitalisierungsstandards keineswegs geklärt: «Die Digitaltechnik entwickelt sich enorm schnell. Filme, die wir heute digitalisieren, müssen morgen neu gespeichert werden – und ich weiss nicht, wann morgen sein wird. Deshalb kopieren wir bei Restaurierungen auf Film, um eine verlässliche Basis zu haben.» Dies gilt jedoch nicht für neue Filme, die digital gedreht, vertrieben und archiviert werden; hier wissen wir nicht, ob sie in 50 Jahren noch lesbar sein werden.

 

8. Eine Welt der Bilder

Die Cinémathèque sammelt nicht nur Filme. Es finden sich hier auch Filmwochenschauen, Amateurfilme, Auftrags- und Werbefilme – eine audiovisuelle Sammlung der Vergangenheit. Und wie bereitet sich ein Filmarchiv darauf vor, die heutige Welt zu archivieren, in der das Audiovisuelle allgegenwärtig ist und jeder ständig Bilder produziert? «Ich halte mir die Augen und Ohren zu!», meint Frédéric Maire lachend, bevor er in ernsthaftem Ton fortfährt: «Wir können uns die Tatsache zunutze machen, dass es Clouds gibt, dass von allem überall Kopien vorhanden sind, und dass immer weniger verloren geht. YouTube ist an sich schon eine Art Archiv. Wir archivieren den Blick des Autors, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Gesellschaft richtet. Aufgrund der reinen Menge an potenziell interessantem Material und der verfügbaren Arbeitskräfte werden die Archive der Realität immer ein wenig hinterherhinken. Wir können nicht alle audiovisuellen Erzeugnisse unserer Zeit archivieren.» Frédéric Maire schliesst mit einem zugleich deprimierenden und tröstlichen Gedanken: Wir müssen den Mut aufbringen, auszuwählen und zu verzichten.

▶  Originaltext: Französisch

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